Bugatti taucht auf
gutartig Schönes, dessen Kraft einen Teil der Gewalttat überstrahlen könnte; etwas, das dem Schrecken und der Hysterie, die diesen Mord umgaben, trotzen konnte; etwas Unfertiges, Fragendes, das Fantasien und Interesse auf sich zog; eine Geschichte, die von irgendwoher kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes.
5
Lucas Leichnam wurde an einem Vormittag um zehn Uhr in Gordola beigesetzt. Als Jordi ankam, war auf der Straße zum Friedhof kaum noch ein Durchkommen. Er parkte das Auto kurzerhand in einer Hauseinfahrt, ging zu Fuß weiter und wich hinter dem Eingangstor in einen Seitenweg aus, der an der Friedhofsmauer entlangführte; das Grab war seinem Blick entzogen, er konnte von weitem den Bischof erkennen, der etwas erhöht auf einem Treppchen stand; und trotz der Bitten der Familie um Rücksicht warteten dort ein halbes Dutzend Fotografen und zwei oder drei Fernsehteams. Jordi harrte aus bis zum Ende der Trauerrede, obwohl von den Worten des Priesters kaum etwas bis zu ihm drang. Es kam ihm vor, als sähe er auf ein Bild, zu dem er selbst nicht gehörte.
Er verließ den Friedhof noch vor dem Ende der Beisetzung und fuhr zurück in seine Werkstatt, wo er an einem Ersatzteil für die Seilwinde auf der großen Plattform feilte; kurz vor zwei Uhr nachmittags setzte er sich aufs Motorrad und fuhr hinüber zum Seeufer, dorthin, wo eine alte Rampe noch immer als Anlegeplatz diente. Er mochte diese Stelle, man hatte links die Bucht von Ascona vor sich, rechterhand dehnten sich weit die Berge und der See. Er dachte kurz daran, in den Ort zu laufen, einen Strauß Blumen zu kaufen und in die Wellen zu werfen, als Andenken für Luca, irgendetwas, um seine Wut mit einer Geste abzuschließen, um eine Beruhigung zu finden, die es in der schweigenden Versammlung am Morgen nicht gegeben hatte, aber nichts schien ihm angemessen.
Er geriet ins Fantasieren, wie es in Ascona früher gewesen sein mochte, als es noch keine Ausflugstadt für Alte war, als sich ein paar Maler und Schriftsteller hierher verirrt hatten, ein paar Spinner und Spintisierer, Barfußläufer und Bäumehorcher und Wassertreter; aber wahrscheinlich war der Ort schon immer langweilig gewesen, und auch dieser schreckliche Monte Veritá mit seinen traurigen, sich esoterisch spreizenden Gebäuden und Anlagen war nur der fürchterlichste, weil vollkommen belanglose Ausdruck dieser Langeweile und Abgehobenheit.
Die Vorstellung von früher überfiel ihn unweigerlich, wenn er an der Anlegestelle stand, seit ihm der Großvater Max ein Foto gezeigt hatte,
Ascona im Jahr 1936
. Statt der Promenade gab es einen einfachen Kiesstrand, dahinter standen niedrige Fischerhäuser; sie machten einen ärmlichen, sogar schäbigen Eindruck. Vorne rechts waren drei Frauen festgehalten, die mit ihrer Wäsche ans Seeufer gekommen waren; die eine bückte sich über ein Stück Laken im Wasser, zwei redeten, und hinter ihnen standen die Weidenkörbe, ein Haufen Weißwäsche türmte sich daneben. Jordi wünschte sich die Vergangenheit nicht zurück, eine Vergangenheit, in der seine Großmutter, weil sie Italienerin war und aus dem Süden, lange Zeit mit niemandem mehr Worte wechseln sollte als
Guten Tag
und
Schönes Wetter heute
, eine Vergangenheit, in der seine Mutter, weil sie Deutsche war, sich wünschte, sie wäre in der Schweiz geboren, um ein Ansehen zu haben.
Die Rampe, auf der Jordi stand, fiel tief und steil ins Wasser, wurde aber jetzt beinahe von den Wellen überspült, der Pegel war hoch heute. Jordi sah hinaus auf die Bojen, die zwischen hier und dem Ostufer lagen, zwischen hier und der Promenade. Wieder fiel ihm diese eine Boje auf, die auf halber Strecke lag. Er hatte sie nicht gesetzt. Von wem und wofür war sie?
Ungefähr an der Stelle, die die fragliche Boje markierte, in einer Tiefe, die nur für erfahrene Taucher zugänglich war, lag ein Wrack. Ein altes Auto. Man vermutete, dass es ein Auto war, denn zu sehen war genau genommen nur ein Rad. Ein einziges. In Wirklichkeit war es nicht einmal ein Rad, sondern nur die Nabe eines Rades. Es hieß sogar, dass das Auto ein Bugatti sein sollte, den jemand in den dreißiger Jahren im See versenkt hatte, aus zwielichtigen Motiven.
Ein Bugatti! Jordi hielt es für einen der Mythen, die die Taucher sich als Anlass schufen, um in Finsternis und Kälte hinabzusteigen.
Er selber war nur ein Mal unten gewesen, ein einziges Mal hatte er das Rad oder vielmehr die Nabe des Rades gesehen.
Weitere Kostenlose Bücher