Bugschuß
Schließlich waren die Vermesser bierselig abgerückt. Es war in Zeiten gewesen, in denen noch mit Papierplänen und Bleistift gearbeitet wurde, wo amtliche Mitarbeiter die Zeit hatten, längere Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern zu führen oder an kleinen Zeremonien, wie eben Grenzsteinsetzungen, Richtfesten oder Einweihungen, teilzunehmen und dabei auch mal einen mehr zu trinken, als es ihre berufliche Stellung und die dahinter schriftlich fixierten oder allgemein üblichen Vorgaben eigentlich zuließen. Mobile Computer mit georeferenzierten Karten, auf denen eine über GPS ermittelte und mittels des Satellitenpositionierungsdienstes der Landesvermessung verbesserte, zentimetergenaue Position angezeigt wurde, waren seinerzeit unbekannt.
Der ewig währende Streit hatte wohl mit dieser Grenzsteingeschichte begonnen, von deren Wahrheitsgehalt Onno Ahlert nach wie vor überzeugt war, obwohl er der Enkelgeneration angehörte. Seitdem lag ein Fluch über den zwei Grundstücken und denen, die in den Häusern darauf lebten. Die Großväter Ahlert und Wientjes hatten bereits gestritten, ihre Söhne hatten die Fehde fortgesetzt. Und nun waren es deren Kinder, denen es nicht gelang, die Feindschaft zu überwinden. Der Wille dazu fehlte auf beiden Seiten. Obwohl Onno Ahlert, wie er immer wieder betonte, ein friedfertiger Mensch war, konnte man sich aus seiner Sicht mit dem Nachbarn, Harm Wientjes, nicht einigen. Der war so stur, so uneinsichtig! Was Harm Wientjes umgekehrt ebenso behauptete.
Als Ahlert die Geschichte von den versetzten Grenzsteinen wieder einmal erwähnt hatte, beim Straßenfest und so laut, dass der am Nebentisch stehende Wientjes es hören musste, wäre es beinahe zur Schlägerei gekommen. Die Aufforderung Wientjes’, in der Öffentlichkeit nicht so einen Unsinn zu erzählen, hatte Ahlert nur angefeuert, die Geschichte auszudehnen und um einige Details zu erweitern. Wientjes hatte schließlich gedroht, er würde zu seinem Anwalt gehen, da Ahlert eine falsche Behauptung nach der anderen herausposaunte. Die Anwesenden versuchten schließlich, die Streithähne zu besänftigen. Nach Wientjes’ Aussage »Ich scheuer dir gleich eine!« war es nur Ahlerts Ehefrau und Wientjes’ Lebensgefährtin gelungen, genau dies zu verhindern.
Harm Wientjes sprach daraufhin einige Monate kein Sterbenswörtchen mit Onno Ahlert. Später hatte sich die Kommunikation zwischen den beiden wieder auf ein ›Moin‹ erweitert, allenfalls gebrummelt und nur ausgesprochen, wenn es unvermeidlich war.
»Holl mi up mit Ahlert, der Kerl regt mich nur auf!«, hatte Harm zu seiner Freundin Sonja gesagt, die, zusammen mit der Frau Ahlerts, immer wieder Versöhnungsversuche startete – jedoch erfolglos. Eher war das Gegenteil der Fall. Irgendwann hatte Wientjes eine Anzeige auf dem Küchentisch liegen. Er war erstarrt, als er den Brief vom Postboten entgegengenommen, geöffnet und gelesen hatte. Ahlert warf ihm vor, die Grundstücksmauer, die von Wientjes als eine Art Berliner Mauer errichtet worden war, zu nah an die Grenze gesetzt zu haben. Deren Verlauf sei zwar amtlich festgelegt, aber nachweislich dennoch falsch, da die Grenzsteine nicht auf den richtigen Positionen gesetzt worden waren.
Diese Mauer, zweieinhalb Meter hoch und aus massivem Backstein, sollte daraufhin zu einem endlosen Rechtsstreit führen, der Ahlert oder Wientjes viel Geld kosten würde, je nachdem, wie die Sache ausginge. Beide glaubten fest daran, in dieser Auseinandersetzung siegen zu können, doch die Mühlen der Rechtsprechung mahlten langsam, derweil sich die Männer in immer weiteren Versuchen ergingen, den anderen zu mobben.
Wientjes hatte schließlich entschieden, sich einfach nicht mehr um das Geschwätz Ahlerts, wie er es bezeichnete, zu kümmern. Der Streit um die Mauer und all die Zwistigkeiten der Vergangenheit gärte weiter.
Irgendwann kündigte Ahlert an, was Sonja von Annegret Ahlert wusste und wiederum ihrem Freund zutrug, dass er offensichtlich fürs Erste mit der Mauer leben musste und diese deshalb sinnvoll nutzen wolle. Er werde dort eine Schießscheibe anbringen, schließlich müsse er immer wieder für die Vereinsmeisterschaften im Schützenverein üben. Wientjes fühlte, wie der Druck in der Magengegend zunahm, als er das hörte, hatte es zunächst wortlos, lediglich mit einem Kopfschütteln abgetan.
Schließlich war das Fass doch noch übergelaufen. Ahlert kehrte abends angetrunken vom Schützenverein heim. Nicht dass das
Weitere Kostenlose Bücher