Bugschuß
hatte Dr. Rotenberg zunächst lapidar gemeint, nachdem sich seine Überraschung gelegt hatte. Schusswunden waren selten, hier war Ostfriesland, nicht Chicago, São Paulo oder Mexico City.
»Er hat Blut verloren«, sagte Rotenberg zu einem Kollegen, und machte Anstalten, aus dem Krankenzimmer zu schweben.
»Immerhin ist der Schuss nur knapp am Knochen vorbei gegangen – außerdem hat der Mann Bluthochdruck«, stellte Assistenzarzt Dr. Schultenkämper fest, der einen bodenständigeren Eindruck machte als sein Chef.
»Ich habe es bemerkt. Wenigstens raucht er nicht und treibt Sport. Bei manchen scheint zwar gerade das zu langem Leben zu verhelfen, siehe Helmut Schmidt, und der paart das auch noch mit dem Konsum von unglaublichen Mengen Kaffee, aber ich stufe den Verzicht auf Nikotin und keine oder wenig Bewegung nach wie vor als gesundheitsfördernd ein«, Rotenberg lachte, nahm dann jedoch einen ernsteren Gesichtsausdruck an. »Ein Schuss … Ich war mal bei einer Wandertour übers Fjell in Norwegen, da hat man uns empfohlen, bunte Jacken zu tragen. Es gäbe immer wieder Jagden, da führen besonders gerne betagte Herren hin, aus ganz Europa, um endlich ihren großen Elch zu erlegen. Und die könnten eben nicht immer so genau einen Elch von einem Menschen unterscheiden … Wenn das sich bewegende Objekt aber grellorange oder leuchtend rot daherkäme, sei die Gefahr geringer, abgeschossen zu werden.«
»Hier gibt’s aber keine Elche, und das Getier, das man schießen kann, ist signifikant kleiner als ein Mensch«, meinte Schultenkämper, der gleichzeitig irgendetwas in eine Krankenakte schrieb.
»Und es bewegt sich doch«, erwiderte Rotenberg, woraufhin seine Aufmerksamkeit eben jener Akte gehörte, die der Assistenzarzt ihm in die Hand drückte. Offenbar bedurfte es noch eines kritischen Blickes auf das Geschriebene und des Handzeichens des Oberarztes. Erst danach verließen die Ärzte das Zimmer.
Indes saßen Gernot Jande und Harm Wientjes in der Cafeteria des Krankenhauses, wo Wientjes zum x-ten Mal seinem Kaffee umrührte. Sie hatten betont, sie würden bei Dietmar Stöwers bleiben, bis klar war, wie es um ihn stünde. Jande hatte Dietmars Freundin Sigrun informiert. Mehrmals war von beiden ihre Heirat angekündigt worden, doch dann fehlte es immer an der Zeit, das Ganze vorzubereiten, wie sie sagten. Schließlich beließen sie es bei der Ankündigung und mittlerweile fragte sowieso niemand mehr danach. Sie würde sofort losfahren, hatte Sigrun gerufen, bestürzt über diese völlig unerwartete Nachricht, sodass Jande das Handy intuitiv ein wenig weiter vom Ohr abgehalten hatte.
Jande hatte sie beim Shopping erreicht.
»Was willst du denn jetzt?«, fragte sie ihn fröhlich, »endlich komme ich mal ungestört in die Stadt, ohne männliche Begleitung, ohne den ewigen Blick auf das Portemonnaie verbunden mit Anmerkungen, welche Rechnungen noch offen sind, und nun …«
Gernot unterbrach sie. Es war gar nicht einfach, Sigrun davon zu überzeugen, dass er es ernst meinte, als er erläuterte, ihr Freund sei angeschossen worden.
»Leute, ihr habt einen gepichelt, stimmt’s?«, war ihre erste Vermutung. Als Jande auf seiner Geschichte beharrte, war sie fast sauer geworden: »Erzähl’ nicht so einen Mist. Was willst du eigentlich?«
Jande insistierte und schließlich glaubte sie ihm. Ihre Stimme nahm eine ganz andere Tonlage an, fast meinte Jande zu hören, wie sie zwischendurch schluchzte. Dann verschlug es ihr fast die Sprache, als sie druckste: »Wie konnte das passieren? Habt ihr irgendeinen Scheiß gebaut?«
»Hör mal«, brauste Jande auf, »wir rudern friedlich über Ostfrieslands Kanäle und da kommen Schüsse aus dem Nichts! Was sollen wir denn für Scheiß gebaut haben? Plötzlich Mitglied der ostfriesischen Mafia geworden, oder was? Nee, Sigrun, wir haben keinen blassen Schimmer, was sich da abgespielt hat. Dietmar, die arme Sau, hätte es erwischen können! Am besten, du kommst schnellstens ins Krankenhaus, packst ihm eine Unnerbüx und einen Schlafanzug ein. Keine Ahnung, aber vielleicht muss er eine Nacht dableiben. Er ist reichlich durcheinander. Im Moment hat sowieso keiner mehr Lust, irgendwelchen lustigen Freizeitaktivitäten nachzugehen.«
»Du hast recht«, flüsterte Sigrun und fügte hinzu: »Ich fahre gleich los. Danke dir. Mein Akku ist gleich leer. Ich versuche von zu Hause, Dietmar im Krankenhaus zu erreichen.«
»Ist okay. Wir bleiben hier, bis du da bist. Wir sehen uns!«
Jande
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