Bullenball
standen
hohe Tannen, deren unterste Zweige sich dicht an dicht gegen seine
Fensterscheiben legten.
Er warf die Einkaufstüten aufs Bett und machte sich sofort daran,
alles auszupacken. Zuerst die Turnschuhe, die ihn ein kleines Vermögen gekostet
hatten. Dann die Baggy Pants, das weite T-Shirt, ein Baseballcap und
schließlich seine teuerste Anschaffung, eine tiefschwarze Markenlederjacke mit
Kragen aus Fellimitat. Alles Sachen, die er unter normalen Umständen niemals
tragen würde. In der Umkleidekabine hatte er sich selbst kaum wiedererkannt.
Ein Fremder hatte im Spiegel gestanden, groß und gut aussehend und sehr
überzeugend in der Rolle als Hip-Hopper. Die perfekte Tarnung.
Er schnitt die Preisschilder ab und wickelte die Sachen in ein
großes Badetuch, das er in der hintersten Ecke seines Kleiderschranks
verstaute. Dann sammelte er Kartons und Plastiktüten auf und stopfte alles in
den Papierkorb.
Mit einem Seufzer ließ er sich in seinen Schreibtischsessel sinken.
Er fummelte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Tiefe
Zufriedenheit erfasste ihn. Alles nahm konkrete Züge an. Das war gut. Keiner
würde ihn mehr aufhalten, dafür war es längst zu spät. Mit einem Lächeln
betrachtete er den Rauch, der sich über seinem Kopf ausbreitete.
Er fühlte sich frei. Und glücklich.
In der Kneipe war es brechend voll. Zum größten Teil Studenten, das
nahm er jedenfalls an. Ein ziemliches Durcheinander von Menschen. Vor allem war
es höllisch laut. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und schrien gegen die
Musik an, es wurde geschoben und gequetscht.
Vom Eingang aus betrachtete Hambrock unschlüssig das Treiben.
Eigentlich hatte er sich auf einen ruhigen Kneipenabend gefreut. Am Tresen fand
er ein kleines Plätzchen, doch in dem Gedränge würde er nicht viel Freude an
seinem Bier haben. Die Leute waren in festen Cliquen unterwegs, da zeigte
keiner Interesse an irgendwelchen Fremden. Mehr als einen Ellbogenstoß konnte
er hier kaum erwarten.
Zu Hause vor dem Fernseher war ihm die Decke auf den Kopf gefallen.
Mithilfe der Kneipe wollte er sich auf andere Gedanken bringen. Na, sei’s drum,
dachte er und stand wieder auf. Es hilft ja nichts. Ein andermal.
Jamaine, der Wirt, begrüßte ihn mit einem Nicken. »Ein Bier für
dich, Hambrock, wie immer?« Und bevor er etwas erwidern konnte, hielt Jamaine
schon ein Glas unter den Zapfhahn. Dabei grinste er in sich hinein, denn natürlich
hatte er Hambrocks Absichten durchschaut. Aber wenn schon ein Bier in der Mache
war, konnte er schlecht wieder gehen.
Jamaine war Jamaikaner und ein alter Bekannter von Hambrock. In den
Achtzigern in Münster gestrandet, hatte er in einer heruntergekommenen
Eckkneipe seinen Laden eröffnet, mit der vagen Befürchtung, sich damit
möglicherweise in den Ruin zu stürzen. Doch innerhalb kürzester Zeit war er
stadtbekannt gewesen. Ein Schuss Exotik im katholischen Münster, das hatte vor
allem den Studenten gefallen. Reggaemusik, Kifferromantik und bunte Flaggen an
der Decke – die Leute waren ganz aus dem Häuschen gewesen. Unter den
Sprösslingen der gutbürgerlichen Familien der Stadt brach schnell ein Wettbewerb
aus, wer sich Jamaines Freund nennen durfte. Dabei hätte Hambrock nicht einmal
sagen können, wie viel von diesem ganzen Rastafari-Gehabe, das alle so toll
fanden, überhaupt echt war. Jamaine trug zwar bunte Hemden und war stolz auf
seine Dreadlocks, die ihm bis zur Hüfte reichten. Außerdem verfügte er über ein
umfassendes Wissen, was jamaikanische Musik und Kultur anbelangte. Trotzdem war
Hambrock nie den Verdacht losgeworden, dass das meiste davon nur aufgesetzte
Folklore war – als böte Jamaine den Deutschen eine kalkulierte
Touristenattraktion und amüsierte sich im Stillen über den Profit, der damit zu
erzielen war.
Seit Hambrock in die Gruppe für Kapitalverbrechen aufgestiegen war
und nichts mehr mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu tun hatte,
gab es zwischen ihm und Jamaine keine beruflichen Kontakte mehr. Aber da sich
seine Kneipe direkt gegenüber Hambrocks Wohnung befand, pflegten sie weiterhin
gute Bekanntschaft.
Jamaine stellte das Glas auf den Tresen. »Nimm das Bier und geh nach
hinten«, rief er. »Da läuft gerade die Sportschau. Ich komm gleich dazu, dann
können wir uns unterhalten.«
Dankbar verkroch sich Hambrock in das halb leere Hinterzimmer, in
dem er einen Stehtisch ganz für sich allein hatte und alles zum aktuellen Spieltag
in der Bundesliga
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