Bullenball
einschätzen
können. Im Grunde war sie genauso schlau wie zuvor.
Am Tresen rückte Marlon seine Hornbrille zurecht und ließ Marie
allein. Jule sah ihm nach, bis er unweit der Toiletten in der Menge
verschwunden war. Dann entdeckte sie am Tisch daneben ihren Bruder. Niklas
hatte sich über zwei Stühle gefläzt und trug mal wieder demonstrative
Langeweile zur Schau. Vor ihm ein riesiger randvoller Bierhumpen, daneben eine
ganze Reihe bereits geleerter. Für ihn war das alles nur ein großes Besäufnis,
mehr interessierte ihn nicht. Eigentlich war sie sauer auf ihn, doch zugleich
wirkte er so verloren an dem langen Tisch, dass sie sich wünschte, es wäre
einer da, der sich ein bisschen um ihn kümmerte. Von Jonas konnte sie das an diesem
Abend schließlich nicht verlangen.
Jule verstand ihren Bruder einfach nicht. Am Nachmittag hatte Niklas
plötzlich behauptet, nicht zur Party gehen zu wollen. Verlobungen seien ihm zu
spießig. Es war völlig vergebens gewesen, mit ihm zu reden. Er hatte einfach
dichtgemacht und Jule nicht mehr an sich herangelassen.
»Was ist nur los mit dir, verdammt noch mal?«, hatte sie irgendwann
gerufen. »Ich versteh dich nicht mehr. Red doch mit mir! So wie früher.«
Woraufhin er nur genervt mit den Augen gerollt hatte. »Also gut, ich
komm ja schon. Du hast gewonnen.«
»Versprichst du mir das?«
»Kann ich einen Kumpel vom Anne-Frank-Gymnasium mitbringen? Dann ist
es nicht so langweilig.«
Jule hatte keine Lust mehr gehabt zu streiten. »Mach, was du willst.
Aber um eines bitte ich dich: Verdirb mir den Abend nicht! Das ist mein Ernst.«
Von diesem Kumpel, den er mitbringen wollte, war weit und breit
nichts zu sehen. Wie immer hockte er allein herum.
Jule leerte ihr Glas, erhob sich und steuerte den Tisch an, wo
Niklas saß. Auf halbem Weg blieb sie stehen. Marlon war wiederaufgetaucht. Er
stand mit besorgtem Gesicht am Rand der Tanzfläche und suchte die Menge ab.
Dann ging er auf Jonas zu, der die Polonaise anführte und mit einer Flasche
Wacholderschnaps im Vorbeischunkeln Gläser füllte. Marlon nahm ihn zur Seite
und flüsterte ihm etwas zu, das Jonas’ gute Laune mit einem Streich fortwischte.
Er drückte dem Nächststehenden die Schnapsflasche in die Hand und folgte Marlon
zum Ausgang. Ein paar Freunde schlossen sich ihnen an, gemeinsam verschwanden
sie aus dem Festsaal.
Jule zögerte nicht lange. Sie drängte sich durch die Menge hindurch
zum Ausgang. Kalte Luft empfing sie draußen auf dem Parkplatz. Die schwere
Eingangstür fiel hinter ihr ins Schloss, der Lärm drang nur gedämpft heraus.
Das Grüppchen junger Männer hatte sich vor Jonas’ Wagen versammelt. Der VW Polo war von einer durchscheinenden gelblichen Schicht überzogen, die Jule an
etwas zu dünn geratene Fingerfarbe erinnerte.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte sie.
Die Jungs wechselten betretene Blicke.
»Jemand hat Jonas’ Auto mit Eiern eingeschmiert.«
Sie sah fassungslos in die Runde. »Wie bitte?«
»Das ist eine totale Schweinerei. Sobald das getrocknet ist, kriegt
man das Zeug kaum wieder ab.«
»Aber wer tut denn so was?« Jule suchte Jonas’ Blick.
Er lächelte betreten und hob resigniert die Schultern. »Irgendwelche
Jugendlichen«, meinte er. »Wer sonst? Da haben sich ein paar Blagen einen
Scherz erlaubt.«
»Einen ziemlich schlechten Scherz, wenn ihr mich fragt.«
Doch Jonas wollte sich die Laune nicht verderben lassen. »Kommt
schon, Leute. Das ist meine Verlobung. Kümmert euch nicht darum. Ich werde
morgen darüber nachdenken, wie ich das in Ordnung bringe. Heute Nacht will ich
feiern.«
Kurzes Gemurmel folgte. Dann boten Jonas’ Freunde an, den Wagen zur
nächsten Tankstelle zu fahren, jetzt gleich. Mit vereinten Kräften würden sie
die Karosse vom Dreck befreien. Jonas sollte das Ganze einfach vergessen und
zurück aufs Fest gehen. »Es ist dein Abend, Jonas, das versteht sich doch von
selbst.«
Während sie die Einzelheiten besprachen, entdeckte Jule ihre
Freundin Marie, die in der offenen Tür zum Festsaal stand und neugierig das
Geschehen beobachtete. Dabei hatte sie nur Augen für den verdreckten Wagen und
würdigte Jule keines Blickes. Plötzlich trat ein seltsamer Ausdruck in Maries
Gesicht. Sie schien angestrengt über etwas nachzudenken.
Ben schloss seine Zimmertür ab. Auch wenn keiner seiner Mitbewohner
zu Hause war, fühlte er sich bei verschlossener Tür wesentlich besser. Er sah
sich in dem dämmrigen Raum um. Es drang kaum Licht herein, denn im Hof
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