Bullenball
gekommen.
Anfangs hatte sie mit dem Gerät nichts anzufangen gewusst. Sie
kannte keinen, dem sie eine E-Mail hätte schreiben können. Und für ihre
Aufsätze recherchierte sie lieber in der Schulbibliothek. Außerdem schien alles
furchtbar kompliziert zu sein.
Doch das änderte sich schnell. Kaum war sie mit dem Internet
verbunden, stellte sich ein unvermutetes und seltsam berauschendes Gefühl ein.
Ihr wurde mit einem Schlag bewusst, mit Millionen unsichtbarer Menschen
verbunden zu sein und mit zahllosen Seiten, auf denen alles Mögliche stand. Sie
war ganz aufgeregt gewesen. Alles, was die Welt bewegte, fand sich auch im
Internet wieder. Da war es doch denkbar, irgendwo Antworten auf ihre Fragen zu
finden. Einer, der ihr erklärte, warum sich ihr Leben wie eine Falle anfühlte,
aus der es kein Entkommen gab. Oder der ihr ein Bild davon zeigte, wie sie aus
allem ausbrechen konnte. In einer aberwitzigen, berauschenden und märchenhaften
Zukunft.
Dieses Hochgefühl band sie fest vor den Bildschirm, obwohl ihr
anfangs die Logik des Netzes verschlossen blieb. Die schlichte Aussicht auf
Antworten reichte aus, um ihr Herz höher schlagen zu lassen. Da war es gar
nicht so wichtig zu wissen, wie sie nun genau dorthin fand.
Ihre Lehrerin hatte ihr das Prinzip der Suchmaschinen erklärt, aber
das half ihr auch nicht weiter. Das Netz blieb ein riesiger Irrgarten. Am ersten
Abend hatte sie eine der Suchmaschinen aufgerufen und die Maske lange und
tatenlos angestarrt. Nach gründlichem Überlegen hatte sie schließlich das Wort
gefunden, das am meisten von ihr widerspiegelte, und es in die Maske
eingegeben: Verzweiflung. Doch die Liste der gefundenen Netzseiten zeigte ihr,
wie wenig sie von allem verstand. Es gab keine Belohnung dafür, sich zu
überwinden. Dort war keiner, der ihr Mut zusprach.
Die Stimme ihrer Mutter drang durchs Haus. »Wenn du mit den
Hausaufgaben fertig bist, gehst du zur Kuhwiese und hilfst deinem Vater, den
Zaun auszubessern.«
Adelheid antwortete nicht. Unten knallte eine Tür, ihre Mutter hatte
den Hausflur wieder verlassen. Adelheid wandte sich dem Computer zu. Vor ein
paar Tagen war sie dazu übergegangen, Kombinationen mehrerer Wörter
auszuprobieren. Immer das, was ihr gerade einfiel. Das hatte sie zwar auch noch
nicht zum Ziel geführt. Aber sie stieß jetzt auf viel Tröstendes, und sie warf
Blicke auf das Leben anderer Menschen, die ebenfalls glaubten, in einer
ausweglosen Situation zu sein.
Sie gab wieder mal die Worte ein, die ihr als Erstes in den Sinn
kamen. Heute waren das: Tod, Krebs und Folter. Dann drückte sie auf Enter. Ein
ganzes Universum erschien. Sie las Gedichte übers Sterben, Berichte aus dem
Jenseits, schaute sich Bilder von Friedhöfen an und kleine Filmchen über
Naturkatastrophen und Amokläufe. Schließlich landete sie auf einer Seite, auf
der prominente Selbstmörder aufgelistet waren – Schauspieler, Sportler und
Politiker – und wo Tipps gegeben wurden, wie man sich schmerzfrei und sicher
ins Jenseits befördern konnte. Sie versank völlig in diesen Dingen und vergaß
alles um sich herum.
Dann wieder die Stimme ihrer Mutter: »Wie lange dauert das denn
noch?«
Adelheid war gerade auf ein Forum gestoßen, in dem über das Sterben
diskutiert wurde. Sie las nur, was die Mitglieder geschrieben hatten. Sich
selbst bei einem Forum anzumelden, wagte sie nicht. Zu groß war die Angst
davor, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, sei es nun virtuell oder
nicht. Sie fühlte sich beschützter, wenn sie nur beobachtete und im Verborgenen
blieb. Wenn keiner ihre Existenz bemerkte.
»Adelheid! Hörst du mich überhaupt?«
»Ja. Ich komme gleich.«
Mit einem Seufzer machte sie sich daran, das Programm zu schließen.
Im letzten Moment zögerte sie. Irgendwas hatte unterbewusst ihre Aufmerksamkeit
erregt. Da war etwas Vertrautes auf der Seite, ohne dass sie es näher hätte
benennen können. Nachdenklich suchte sie den Bildschirm ab. Und dann fand sie,
was sie suchte: In der Liste der Forenmitglieder gab es ein Wort, das ihr mehr
als vertraut war: Brook. Es war Teil des Namens, mit dem sich ein Mitglied
angemeldet hatte: der_könig_von_brook.
Lange betrachtete sie den Namen. Konnte das ein Zufall sein? Gab es
vielleicht noch ein anderes Brook, weit entfernt von hier? Oder war sie im
Internet auf jemanden gestoßen, der in ihrer Nachbarschaft wohnte? Der von den
gleichen Gedanken und Sehnsüchten getrieben war wie sie?
Ihre Mutter und den zu reparierenden Zaun hatte sie
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