Bullenball
Sie fühlte sich, als gehörte sie zum
Personal. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Ehe der Professor
sie in ein weiteres Gespräch verwickeln konnte, war sie schon die Treppe
hinaufgelaufen und in Ulis Zimmer verschwunden.
Ihre Freundin hockte auf dem Fußboden und breitete gerade
Bastelutensilien vor sich aus: Garn, Wolle, Pappmaschee und Farbtuben. In der
Mitte lag der weiße Maleroverall, der das Herzstück des Kostüms werden würde.
»Da bist du ja!«, rief Uli. »Hast du die Daunenfedern mitgebracht?«
»Natürlich. Und die rote Strumpfhose.«
Uli lachte. »Ich schwöre: Wir machen Jule das peinlichste Kostüm,
das es je in Brook gegeben hat. Ich hab mir gedacht, wir bekleben den
Maleroverall. Die Beine hab ich schon mal abgeschnitten, damit die rote
Strumpfhose und die Pappmascheefüße besser zur Geltung kommen. Und guck mal
hier, ich hab noch eine fiese Hühnermaske besorgt!«
Neben Uli auf dem Boden stand außerdem der Korb mit den bemalten
Eiern, die Jule auf dem Bullenball verkaufen sollte. Es war das übliche
peinliche Ritual eines Brooker Junggesellinnenabschieds. Jule würde es nicht
besser ergehen als den anderen aus der Landjugend, die geheiratet hatten.
»Super, dann kann es jetzt losgehen«, meinte Uli. »Ich hol uns mal
eine Flasche Prosecco. Wir wollen schließlich in der richtigen Stimmung sein,
oder?«
Sie lachte und verschwand im Flur. Marie wollte versuchen, sich
nichts anmerken zu lassen – wieder einmal. Bevor sie den anderen von Marlon
erzählte und womöglich auch der Polizei Bescheid gab, wollte sie in Ruhe nachdenken.
Über seinen Hass auf die Jazzband war sie schockiert gewesen.
Natürlich hatte er nie richtig dazugehört. Aber er war schließlich auch nur der
Mischer. Er wurde gebraucht, wenn ein Auftritt bevorstand oder eine CD aufgenommen wurde. Sonst gab es kaum Berührungspunkte. Trotzdem hätte Marlon
jederzeit zu den Partys und Feierlichkeiten der Band kommen können. Er wäre
überall willkommen gewesen. Er war es, der sich entschieden hatte, nicht dabei
zu sein.
Woher kam dieser Hass? Marlon war zwar ein komischer Kauz, dem es
nicht leichtfiel, Anschluss zu finden. Aber da war er weiß Gott nicht der
Einzige in der Jazzband. Sie hatten da so einige komische Typen, die von der
Gruppe mitgezogen wurden. Jules Bruder Niklas zum Beispiel. Ihre Gemeinschaft
war stark genug, ein paar schräge Vögel zu tragen, die sonst vielleicht weniger
Freunde gefunden hätten. War Marlon das denn nicht klar gewesen? Er hätte nur
ein bisschen mehr Zeit mit der Jazzband verbringen müssen, dann wäre auch er
ein Teil von ihnen geworden.
Sie grübelte. Es hatte mal Gerüchte gegeben, Marlon sei schwul. Aber
das war noch während seiner Zeit am Anne-Frank-Gymnasium gewesen. Und selbst
wenn das so wäre – hätte das jemanden gestört?
Den Hass auf seine ehemalige Schule hingegen konnte sie gut
verstehen. Marlon war ziemlich schlecht behandelt worden, und zwar von allen.
Sich selbst konnte sie da leider auch nicht ausnehmen. Sie und ihre Freundinnen
hatten sich genauso blöd benommen wie alle anderen. Aber sie war eben jung
gewesen, so verhielten sich Teenager nun mal.
Im Umkleideraum der Jungen musste irgendwann mal was passiert sein.
Etwas Schlimmes, denn später wollte keiner mehr darüber sprechen, obwohl die
Jungen doch sonst mit allem groß herumprahlten. Es ging das Gerücht, einige
hätten versucht, Marlon eine Bierflasche in den Hintern zu schieben. Aber wer
wusste schon, ob das wirklich stimmte. Danach war er jedenfalls eine Weile
nicht zur Schule gekommen.
Teenager konnten grausam sein, natürlich. Sie hatten sich damals
wirklich nicht mit Ruhm bekleckert. Aber das alles war schon so lange her.
Außerdem erklärte das nicht Marlons Hass auf die Jazzband, über die er sich in
seinem Tagebuch ausließ.
Marie überlegte, wer aus der Jazzband damals am Anne-Frank-Gymnasium
gewesen war. Da kam eine ganze Reihe zusammen. Hatten sie sich damals an den
Hetzjagden auf Marlon beteiligt? Trug er deshalb noch so viel Groll mit sich
herum?
Wenn Marie sich nicht ganz getäuscht hatte, dann hatten Marlon und
sie in den letzten Tagen sogar ein bisschen miteinander geflirtet. Aber war das
auch Marlons Wahrnehmung gewesen? Oder gab es so etwas in seiner Welt gar
nicht? Sein unsicheres Lächeln kam ihr in den Sinn, sein seltsamer Humor. Das
alles passte gar nicht zu den arroganten Kommentaren, die er als König von
Brook gepostet hatte. War das denn alles nur gespielt
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