Bullenball
die erwartungsvollen Gesichter seiner
Kollegen. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
»Ich habe mir die Amokdrohung noch mal angesehen, die er im Internet
veröffentlicht hat. Er spricht dort von einem – ich zitiere –
›Bullenschlachtfest, bei dem das Blut von euch Bastarden nur so fließen wird‹.
Das hat mich auf die Idee gebracht, und ich habe die Sache weiterverfolgt.«
Er nahm ein Befragungsprotokoll auf, das er neben anderen Unterlagen
auf dem Besuchertisch ausgebreitet hatte.
»Marlon gehört zu den ehemaligen Schülern des Anne-Frank-Gymnasiums,
die von uns befragt worden sind. Seine ehemaligen Lehrer hatten ihn als der
Risikogruppe zugehörig eingestuft. Ein Einzelgänger mit Gewaltphantasien,
schlechten schulischen Leistungen und so weiter und so fort.«
Er sah zu Gratczek auf. »Du hast die Befragung geführt. Vielleicht
erinnerst du dich?« Ein knappes Nicken kam als Antwort. »Dann erinnerst du dich
vielleicht auch daran, dass Marlon keine wirklichen Probleme mit seinen Lehrern
hatte, zumindest lässt sich das aus deiner Befragung nicht herauslesen.
Probleme hatte er mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern, die ihn
ausgegrenzt und gemobbt haben. Nicht mit den Lehrern. Da war beispielsweise der
Übergriff in der Dusche, von dem der Sportlehrer gesprochen hat. Sicher
erinnert ihr euch. Er hatte Marlon allein im Duschraum gefunden, mit einem
Schließmuskelriss, der auf das Einführen einer Flasche zurückzuführen war. Die
Lehrer waren schockiert, sie haben versucht Marlon zu überzeugen, seine
Peiniger zu benennen und anzuzeigen. Sie haben ihm zugesichert, die Täter
würden die Schule verlassen. Doch Marlon hat es vorgezogen zu schweigen. Er hat
sich von seinen Lehrern nicht überzeugen lassen. Die Angst vor den Mitschülern
war zu groß. Sieht man sich daraufhin die Befragung noch mal an, die du geführt
hast, findet sich keinerlei Hinweis auf einen Groll gegen seine Lehrer. Der
Hass richtet sich nur auf seine ehemaligen Mitschüler, das wird in der Befragung
deutlich.«
Gratczek nickte wieder und sah Hambrock abwartend an.
»Warum sollte Marlon also in der Schule Amok laufen?«, fuhr Hambrock
fort. »Er würde damit keinen treffen, der es seiner Ansicht nach verdient
hätte. Ich komme noch mal auf den Forumsbeitrag zurück. Da ist nämlich noch
etwas anderes.« Er nahm den Ausdruck auf und las die Stelle vor. »Hört zu: ›Ich
werde die Welt in Flammen werfen. Ich werde auf eine Weise Rache nehmen, die
ihr niemals vergessen werdet. Es wird ein Bullenschlachtfest geben, bei dem das
Blut von euch Bastarden nur so fließen wird. Es wird euch zerfetzen und in
Stücke reißen. Keiner ahnt, wozu ich fähig bin.‹ Und später: ›Keiner kann mich
aufhalten. Eure Zeit läuft ab. Besser, ihr nutzt die Gelegenheit, um eure
Gebete zu sprechen. Denn bald wird es zu spät dafür sein.‹« Er hielt den
Ausdruck hoch. »Er will die ganz große Bühne für seinen Amoklauf. Einen Ort, wo
er Aufsehen erregt, und zwar über die Maßen. Er will etwas, das noch nie da
gewesen ist. An diesem Ort müssen zudem die Menschen versammelt sein, die er
hauptsächlich treffen will. Nämlich seine ehemaligen Schulkameraden vom
Anne-Frank-Gymnasium. Ich habe mir die Namensliste seiner Jahrgangsstufe geben
lassen und sie mit der Mitgliederliste der Brooker Landjugend abgeglichen. Die
Landjugend wird wie jedes Jahr beim Bullenball anwesend sein. Da gibt es schon
mal einige Übereinstimmungen. Aber das ist noch nicht alles. Die meisten
Schnittmengen gibt es nämlich mit der Brooker Jazzband unter der Leitung von
Günter Ehlers. Dort ist der Hauptteil seiner ehemaligen Schulkameraden versammelt,
die spielen fast alle mit. Und jetzt wird es interessant: Von den Nottulner
Kollegen wissen wir, dass die Band in den letzten Wochen Opfer delinquenten
Verhaltens war. Diebstahl, Einbruch und Vandalismus. Was schon mal in das Bild
eines Gewalttäters passen würde. Er könnte vor dem Amoklauf bereits kleinere
Delikte begangen haben, das kommt durchaus vor. Aber das Beste ist: Zwei
ehemalige Mitschüler von Marlon, die ebenfalls in der Jazzband sind, werden
nächste Woche heiraten. Für ihren Junggesellenabschied haben sie sich den
Bullenball ausgesucht. Da werden sie heute Abend die Sau rauslassen, im
Schlepptau haben sie sämtliche Mitglieder der Jazzband. Damit sind fast alle
ehemaligen Mitschüler von Marlon heute Abend dort versammelt. Und der Bullenball
wäre eine ziemlich große Bühne für ihn, ganz nach seinem
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