Bullenball
dann konnte sie Alarm schlagen oder umkehren.
Sie preschte um die Ecke. Der Mann rückte in ihr Blickfeld. Er war
immer noch zu weit entfernt, außerdem waren hier viel weniger Laternen. Es
konnte aber Marlon sein, von der Körpergröße und Gestalt her kam es hin. Auch
sein Gang und der martialische Mantel passten ins Bild.
Leicht außer Atem starrte sie ihm hinterher.
In diesem Moment blieb er stehen. Drehte sich wie ferngesteuert um
und sah ihr direkt in die Augen. Heike erstarrte. Es war Marlon.
Der breite Bürgersteig war menschenleer. Hier waren nur sie beide,
Heike und er. Es gab keine Möglichkeit zur Flucht, nirgends war Deckung. Da war
nur noch ihr unkontrollierter Atem. Die Welt um sie herum trat in den Hintergrund.
Sein Blick war der eines Raubtieres, das seine Beute ins Visier nimmt.
Sekundenlang betrachtete er sie. Nur einen Herzschlag davon entfernt, seine
Waffe zu ziehen und zu schießen.
Sie und ihr ungeborenes Kind waren völlig schutzlos. Heike stand
einfach regungslos da, und das Einzige, was sie denken konnte war: Nein.
Nein.
Sekunden vergingen. Und tatsächlich, er schoss nicht. Irgendwann
verlor er das Interesse, wandte sich ab und tauchte in der Dunkelheit ab.
Sie war wie erstarrt, unfähig, den Blick von der Stelle abzuwenden,
wo er gerade noch gestanden hatte. Ihre Hände begannen zu zittern. Ihr Kind.
Die Knie wurden weich. In diesem Moment erreichte Erlend sie, umfasste ihre
Schultern, zog sie an sich und redete auf sie ein.
Heike verstand kein Wort von dem, was sie sagte. Nur eines sickerte
langsam in ihr Bewusstsein. Sie lebte. Ihrem Kind war nichts passiert.
Hinterm Cocktailstand bereitete Ben Caipirinha-Gläser vor. Beim
Zerstampfen der Limetten hob er den Blick. Im Gewühl entdeckte er Jonas und
seine Freunde, die am Rodeobullen vorbei zum Blauen Saal trotteten.
Wahrscheinlich weil Günter Ehlers gleich dort auflegen würde. Günters
Schlagerparade stand für elf Uhr auf dem Programm, das ließen sich die Leute
von der Jazzband sicher nicht entgehen.
Am Durchgang zur Großen Halle tauchte Jule auf. Sie hatte den
Pappmascheekopf wieder aufgesetzt und führte schunkelnd eine Polonaise an. Das
war die Frauengruppe, die sich jetzt ebenfalls auf den Weg zum Blauen Saal
machte. Die Polonaise führte am Pizzastand vorbei und weiter durch die Menge
zum Rodeobullen.
Überall stimmten die Leute in das Lied ein, das Jule und ihre
Freundinnen laut grölten: »Da hat das rote Pferd sich einfach umgekehrt und hat
mit seinem Schwanz die Fliege abgewehrt …« Einige reihten sich kurzerhand in
die Polonaise ein und folgten den Frauen zum Blauen Saal.
Mit dabei war Uli. Sie lachte, doch als ihr Blick zu Ben und dem
Cocktailstand wanderte, gefror ihr Gesicht zu einer Maske. Schnell wandte sie
sich ab und schloss sich wieder der Polonaise an. Dabei drängelte sie ein
bisschen und lief gegen den Takt, als wollte sie möglichst schnell aus Bens
Blickwinkel fliehen.
Schlagartig wurde ihm bewusst: Vielleicht war das hier das letzte
Mal, dass sie sich sahen. Er spürte plötzlich das dringende Bedürfnis, die
Sache mit Uli zu bereinigen. Falls das nicht möglich war, wollte er sich
wenigstens von ihr verabschieden. Bei allem, was gewesen war. Uli hatte es
nicht verdient, dass er sich so aus ihrem Leben stahl. Er würde ihr seine Pläne
offenbaren. Ob sie ihren Vater nun einweihte oder nicht, das spielte mit einem
Mal gar keine so große Rolle mehr. Sollte der alte Mann doch seiner Strafe
entgehen. Dafür hätte Ben sich zumindest Uli gegenüber fair verhalten. Ihrer
gemeinsamen Geschichte wegen. Das schien ihm plötzlich wichtiger zu sein als
die Rache an seinen Eltern.
Er beeilte sich, die Caipirinhas fertigzustellen, und reichte sie
über die Theke. Nachdem er kassiert hatte, steuerte er den Ausgang an, um Uli
einzuholen und mit ihr zu reden.
»Denkst du noch an die zwei Caipis und den Mojito?«
Das war die junge Frau mit Brille und Kurzhaarfrisur, die am Tresen
wartete. Die hatte er ganz vergessen. Er sah zu Vanessa hinüber, doch die war
bereits mit einer anderen Bestellung beschäftigt und hatte alle Hände voll zu
tun.
»Na klar«, sagte er. »Kommt sofort.«
Er sah Uli hinterm Rodeobullen in Richtung Blauer Saal verschwinden.
Diese eine Bestellung noch, sagte er sich. Uli würde in der
Zwischenzeit schon nicht weglaufen.
Um in den Blauen Saal zu gelangen, musste man durch einen
schlauchartigen Vorraum, der mit Teppichboden ausgelegt war. Eine Fensterfront
gab den Blick auf den
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