Bullenball
nächtlichen Vorplatz und die beleuchteten Springbrunnen
frei. An der Tischreihe hatten sich die älteren Semester versammelt, die
meisten waren wohl Eltern, die ihren Nachwuchs nicht allein zum Bullenball
gehen lassen wollten. Sie saßen gut gelaunt zusammen, genossen die
Schlagermusik, die von nebenan zu hören war, und tranken Bier – alles wie bei
einem ganz gewöhnlichen Stammtisch.
Marie durchquerte den Vorraum und blickte sich suchend nach den
Toiletten um. Die anderen waren bereits im Blauen Saal. Die Stimmung war toll.
Die Leute tanzten Discofox, bunte Lichter kreisten, und es herrschte eine warme
und einladende Atmosphäre. Günter Ehlers war gerade eingetroffen. Mit seinen
Platten- und CD -Koffern war er zum DJ -Pult gegangen.
Marie hatte ihn kurz abgefangen und ein paar Worte mit ihm gewechselt, doch er
wollte ihr nicht verraten, was er sich für Jule und Jonas ausgedacht hatte.
Ihr Blick fiel durch die Glasfront auf den Platz. Sie geriet ins
Straucheln. Da draußen war der Kommissar, der die Ermittlungen bei diesen
Amokgeschichten führte. Niklas war von ihm befragt worden, sie konnte sich
daran erinnern, ihn auf dem Hof von Jules Eltern gesehen zu haben.
Ihr war sofort klar, was das zu bedeuten hatte. Marlon. Die Polizei
wusste offenbar viel mehr, als Marie gedacht hatte. Es war nicht das
Herbstkonzert, wo Marlon zuschlagen wollte. Auch nicht Jules Hochzeit. Er würde
hier zuschlagen, auf dem Bullenball.
Die Erkenntnis überwältigte sie. Günters Schlagerparade. Natürlich.
Hier wären alle versammelt, seine gesamten ehemaligen Mitschüler. Nicht nur die
aus der Jazzband, sondern auch alle anderen.
Fassungslos starrte sie zum Blauen Saal. Sie musste die anderen
warnen, sie beschützen. Sie musste das alles verhindern, sie musste … Jonas.
Jonas war in Gefahr.
Ihre Brust verengte sich, die Hände ballten sich zu Fäusten. Das
innere Bollwerk, das sie in den vergangenen Tagen so mühsam errichtet hatte,
brach in sich zusammen. Sie konnte nur noch an Jonas denken. Sie musste ihn retten,
ihm durfte nichts passieren.
Sie machte kehrt und lief zurück in den Blauen Saal. Jule und die
anderen standen an der Tanzfläche. Schunkelten im Takt und beobachteten das
Treiben. Jonas’ Kumpel waren ebenfalls neben der Tanzfläche. Nur Jonas selbst
war nirgends zu sehen.
Marie stürzte in den Saal. Am Biertresen rempelte sie ein paar
Frauen an, die »Pass doch auf!« riefen und ihr böse Blicke hinterherwarfen.
Doch sie achtete nicht darauf, sondern eilte weiter. Hektisch ließ sie den
Blick über die Menge wandern. Sie musste Jonas finden. Das war jetzt das
Allerwichtigste.
Tim folgte Herrn Evering durch den Verwaltungstrakt zur Halle.
Korridore und Büros wirkten wie ausgestorben, nirgends begegneten sie einer
Menschenseele. Gleichzeitig drangen aber die Partygeräusche herüber. Überbordende
Fröhlichkeit, laute Rockmusik und feiernde Menschen. Als befänden sie sich in
einer surrealen Parallelwelt.
Evering war schweigsam. Für ihn war heute Abend der Höhepunkt
monatelanger Arbeit. Wahrscheinlich machte er drei Kreuze im Kalender, wenn
alles vorüber und eine gute Bilanz vorzuweisen war.
Sie traten durch eine Glastür ins Foyer. Jetzt traf sie der Lärm wie
eine Wand. Von einer Sekunde auf die andere befanden sie sich mitten im Gewühl.
Evering steuerte den Einlass an. Tim folgte ihm. Er versuchte sich nichts anmerken
zu lassen. Alles lief nach Plan.
Evering nahm die Geldkassette entgegen und gab sie in den Koffer,
den er bei sich trug. Bereits zum vierten Mal an diesem Abend sammelte er an
allen Kassen die Einnahmen ein und schloss sie im Verwaltungstrakt in den
Tresor. In etwa einer Stunde, um kurz nach Mitternacht, käme der
Geldtransporter, der alles mitnehmen und zur Bank bringen würde. Bis dahin
mussten der Tresor und das Sicherheitspersonal ausreichen, um die Einnahmen zu
bewachen.
Auf dem Rückweg in den Verwaltungstrakt traf Tims Blick auf den von
Vanessa. Sie stand am Cocktailstand und sah zu ihm herüber. In ihren Augen
konnte er eine Frage lesen. Er machte eine knappe Geste mit dem Kopf. Sie
verstand. Es war noch nicht so weit, sie mussten Geduld haben.
Sie wandte sich wieder ab und arbeitete, als wäre nichts gewesen.
Tim folgte Evering durch die Glastür.
Vanessa sah ihm nach. Sie musste noch warten. Es blieb ihnen nicht
mehr viel Zeit, bis der Geldtransporter kam. Sie hoffte, Tim hatte alles
richtig eingeschätzt, und es würde sich eine Gelegenheit ergeben zuzuschlagen.
Ben
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