Bullet Boys
eine unangenehme, hohe Stimme und eine viel zu große Nase, aber ich muss sagen, sogar sie sieht heute gut aus. Sie trägt ein eng sitzendes rotes Kostüm, das ihre Beine betont, und ihr langes, glänzendes blondes Haar verdeckt ihr hässlich-schönes Gesicht. Sie steht da und blickt bewundernd zu Simon auf. Ich glaube, ich muss mich bald übergeben. Zwölf Gläser Orangensaft habe ich in einer Stunde getrunken, weil sonst nichts los war und mir niemand Wein gab. Ich würde ja in die Küche gehen und mir dort selber eine Flasche holen, aber ich will auf keinen Fall auffallen. Ich gebe mir große Mühe, mich außerhalb des Radarschirms zu bewegen. Ich möchte diese neu herangewachsene Militärmacht nicht provozieren. Ich möchte mir keine weiteren Feinde machen.
Das Streichquartett auf der anderen Seite des Raumes spielt wieder das neoklassizistische Stück, das sie schon dreimal zum Besten gegeben haben, aber außer mir sind alle zu beschwipst und glücklich, als dass es ihnen auffällt.
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und stoße erschrocken mit dem Kopf ans Geländer.
»Du bist als Nächster dran, was, Max?«
Ich blicke hoch ins gruselig alte Gesicht von Oberst Proctor, einem alten Kameraden meines Vaters.
»Ich weiß nicht, ob die Armee mein Ding ist, Herr Oberst«, sage ich in bester Risings-Schule-Manier.
»Unsinn«, sagt der alte Mann. »Das hast du im Blut. Dein Vater war ein hervorragender Soldat, bevor er sich verletzt hat, und es sieht so aus, als würde sich dein Bruder auch gut machen.«
Wir blicken hinüber zu Simon, der gerade ordentlich salutiert, weil ein Vorgesetzter auf einen Plausch zu ihm herangesegelt kommt.
Oberst Proctor hat offensichtlich noch nichts über mich gehört. »Wie alt bist du denn überhaupt? Schon mit der Schule fertig?«
»Ich bin mit der Schule fertig«, antworte ich. »Oder sagen wir: Die Schule ist mit mir fertig. Ich wurde von der Schule verwiesen.«
»Was?« Proctor lehnt sich vor und bläst mir seine Whiskeyfahne ins Gesicht. »Ich kann dich nicht verstehen.«
Plötzlich ragt vor mir mein Vater aus der Menge heraus, sein grauer Eierkopf schlägt nervöse Falten. Vater wirft mir einen scharfen Blick zu, begrüßt Proctor jovial, nimmt ihn am Ellbogen und führt ihn von mir weg.
Die Menge wogt zurück und spült mich an die Wand. Als sich mir mein alter Feind – der Kellner – nähert, fährt mein Fuß von ganz alleine heraus und schickt dessen Tablett mit Getränken zu Boden. Roter Wein sickert zwischen Glassplittern in den blassgrauen Teppichboden. Für einen Augenblick wird es still im Raum (ich vermute, Soldaten werden bei plötzlichem Lärm nervös) und der Kellner wirft mir einen hasserfüllten Blick zu. Die Pause ist kurz, aber aller Augen sind auf mich gerichtet, und mir ist, als kehrte sich mein Innerstes nach außen. Ich hatte das nicht geplant.Ich bücke mich und will dem Kellner helfen, aber der sagt, ich solle mich verpissen.
Innerhalb von Minuten sind Legionen von frisch herbeigeholten Lakaien mit Auftupfen und Wegräumen beschäftigt. Ich stehe hilflos daneben. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen, ich habe kein Glas oder sonst was, mit dem ich herumspielen könnte. Ich lasse die Arme an den Seiten herabbaumeln und sehe bestimmt aus wie ein Affenbaby.
»Max«, stößt meine Mutter durch ihre polierten Zähne. Ihre Federn zittern vor Empörung.
»Das war ein Versehen.« Ich höre den flehenden Ton in meiner Stimme. Wie schön wäre es, wenn ich nicht immer alles falsch machen würde.
»Warum musst du immer alles verderben?«, bricht es aus ihr heraus. Ich widerstehe dem Drang, eine Feder herauszuziehen und meine Mutter damit unterm Kinn zu kitzeln. Ich weiß, dass ich kindisch bin. Ich geb’s ja zu, ich bin eifersüchtig auf meinen Bruder Simon. Der Grund ist ganz simpel. Ich hab ihm nie das Wasser reichen können. Er ist Scooby-Doo, ich bin Scrappy. Er ist Jesus, ich bin Johannes. Ich hab nie in derselben Liga gespielt wie er. Und die Tatsache, dass mein Bruder ein ziemlich netter Kerl ist, einer, der alles kann, der einen besseren Bruder als so einen Fiesling wie mich verdient hat, macht es auch nicht leichter.
Ich hatte darum gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen, aber das stand überhaupt nicht zur Debatte. Mutter hat sich völlig verausgabt, sie hat darauf bestanden, dass zur Feier des Tages der Herd dampfgereinigt und die Fenster geputzt wurden, obwohl das völlig sinnlos war, denn unserHaus liegt am Rande vom Dartmoor und
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