Bullet Catcher 1: Alex
auf.
Das leise rhythmische Geräusch war beinahe wie Musik. Wogte hin und her , hin und her. Das war alles, was sie wahrnahm. Ansonsten umgab sie nur vollkommene Dunkelheit und Stille.
Und ein Geruch. Salzig und feucht kitzelte er in ihrer Nase.
Sie war schon so lange im Dunkeln, dass sie sich nicht mehr an Licht erinnern konnte. Nicht mehr an Farben oder den Geschmack von…
Jessica Adams.
Das war ihr Name. Der Klang in ihrem Kopf löste eigenartige Empfindungen in ihrem Körper aus. Als hätte sie einen Sieg errungen.
Sie erinnerte sich an ihren Namen.
Aber warum konnte sie nichts sehen? Sie blinzelte. Ihre Augen waren doch offen, oder etwa nicht? Sie wusste es nicht. Sie wollte die Hand heben, um nachzufühlen, ob sie wirklich blinzelte oder es sich nur einbildete, aber ihr Arm bewegte sich nicht. Nichts bewegte sich. Kein Muskel. Himmel, sie war gelähmt!
Hatte sie einen Unfall gehabt?
War sie im Koma?
Voller Panik wollte sie um Hilfe schreien, aber auch ihre Lippen bewegten sich nicht. Die Kiefermuskeln spannten sich an, die Zähne öffneten sich ein wenig – aber ihr Mund blieb geschlossen.
Sie war gelähmt. Oder noch Schlimmeres…
»Oh, du bist wach. Dagegen müssen wir sofort etwas unternehmen.«
Die Stimme eines Mannes. Wohlbekannt, freundlich, eine Stimme, der sie vertraute. Wer war er?
Sie spürte einen Stich in ihren Oberschenkel, fühlte sich schwer, müde und erneut verloren. Wer war sie?
Wieder hörte sie das Geräusch. Es wogte hin und her . Im gleichen Rhythmus wie zuvor. Aber jetzt konnte sie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern.
6
Beim ersten Ton ihres Reiseweckers fuhr Jazz hoch. Nachdem Alex sie geweckt hatte, war sie gar nicht mehr richtig eingeschlafen; in ihrem Kopf spulten sich immer wieder die abscheulichen Bilder ab. Sie konnte nur beten, dass eines Tages die Erinnerung daran verblassen würde.
Sie schloss die Augen und vergrub den Kopf im Kissen. Der fehlende Schlaf hatte ein ganz pappiges Gefühl in ihrem Mund hinterlassen. Nichts und niemand würde sie je davon überzeugen, dass diese Sex-Bilder von Jessica echt waren.
Selbst Alex hatte schließlich widerstrebend zugegeben, dass das Ganze in mancherlei Hinsicht eigenartig wirkte. Nie hatte die Kamera Jessicas Gesicht und ihren Körper in einem Bild gezeigt. Und obwohl Statur und Aussehen ähnlich waren, war ihr der Anblick nicht vertraut gewesen. Außerdem hatte die entsprechende Szene nichts mit dem Rest des Films zu tun – so unangenehm es auch gewesen war, das ganze Scheißding noch einmal anzuschauen. Sie waren durch das Format gezwungen gewesen, jede Szene kurz anzuspielen, um die Sequenz mit Jessica zu finden.
Hatte man ihr Gesicht eingefügt, um ihr einen Streich zu spielen? War das Ganze etwa ein Scherz? Wer war der Mann im Film? Ihr Liebhaber oder ein Schauspieler?
Was Jazz allerdings wirklich wahnsinnig machte, war Alex’ Vermutung, Jessica hätte eine versteckte dunkle Seite und Jazz hätte ihre Schwester zu Unrecht auf ein Podest gestellt. Jessica hatte Fehler – ziemlich viele sogar. Aber das Drehen schmutziger Filme gehörte bestimmt nicht dazu.
Es sei denn, es hätte ihr … Spaß gemacht. Vielleicht doch mit ihrem Freund? Der es aufgenommen hatte, damit sie es sich zusammen noch einmal anschauen konnten.
Konnte das sein?
Jazz warf die Decke ab und ging unter die Dusche, um die durchwachte Nacht abzuwaschen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser warm genug war, sah sie sich um: Jessicas Aloe-Gurken-Duschgel, ein flauschiger lila Waschschwamm, Shampoo, Spülung und ein blassrosa Rasierapparat. Mit geradezu militärischer Präzision aufgereiht auf einer glitzernden Marmorkonsole. Ihre eigenen Toilettenartikel lagen auf einem Haufen in der Ecke, natürlich mit aufgeschraubten Deckeln.
Heftiger Schmerz flammte jäh in ihrer Brust auf – sie vermisste ihre Zwillingsschwester. Alles in diesem Hochglanz-Puppenhaus schürte die Sehnsucht nach ihr; Jazz wollte ihre selbstsichere Stimme hören, ihr strahlendes Lächeln sehen. Sie sehnte sich von ganzem Herzen danach, all die Stabilität und Sicherheit in sich aufzusaugen, die Jessica so mühelos ausstrahlte. Wollte sich wieder in das Sicherheitsnetz fallen lassen, das sie dreißig Jahre lang umfangen und beschützt hatte.
Sie stellte sich unter die heiße Dusche und legte den Kopf in den Nacken, ließ das dampfende Wasser über ihren Körper strömen. Diesmal war sie selbst das Sicherheitsnetz, und diese Verantwortung war mehr, als sie
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