Bullet Catcher 3: Johnny
zu kreuzen. Es fiel ihr einfach kein anderer Ausweg ein.
Sage nestelte ihr Ticket heraus, wie schon Dutzende Male an diesem Tag. In den Stunden, seit sie das Eliot Hotel verlassen hatte, war sie viermal mit der Grünen Linie von Lechmere hinaus nach Riverside gefahren. Jetzt stieg sie in die Blaue Linie um und ließ sich im Zickzack hoch zum Nordufer nach Revere bringen.
Die Erkenntnis, dass Lucy Sharpe Johnny Christiano als eine Art Wachhund geschickt hatte, erschütterte sie so sehr, dass sie sich hemmungslos ihrem Selbstmitleid hingab, während die Bahn, einer verletzten Schlange gleich, über das verzweigte Gleisnetz des Bostoner Personennahverkehrs zuckte und ruckelte.
Sie hatte ihr Handy ausgeschaltet, und es wurde allmählich dunkler, draußen ebenso wie in ihrem Herzen. Immerhin ein Ziel hatte sie heute Nachmittag schon erreicht: Nicht nach Hause zu gehen.
Denn es war ganz klar, wer sie dort auf der Eingangstreppe oder sogar in ihrem Wohnzimmer in Empfang nehmen würde. Er war so verdammt gut darin, in etwas einzudringen. Zum Beispiel in ihre Wohnung. Ihr Schlafzimmer. Ihren Körper. Ihr Herz.
Sie drehte sich auf ihrem Sitz um und prüfte zum zwanzigsten Mal, ob er ihr gefolgt war. Dann lehnte sie ihren Kopf an die kühle Scheibe des Wagens und atmete den ranzigen Geruch von Schweiß, Öl, Menschen und Wahrheit ein, an den sie sich inzwischen gewöhnt hatte.
Sie schloss die Augen, um die nächste Tränenflut zurückzuhalten. Wie in Gottes Namen hatte sie so blind sein können? So dumm? So unfähig zu erkennen, was doch offensichtlich war? Wie hatte sie vergessen können, wie allmächtig Lucy Sharpe immer noch war?
John Anthony Christiano – oder wie auch immer er in Wahrheit hieß – war nie ein »Retter « von Fantasy Adventures gewesen. Er war kein Callboy. Er war kein Liebhaber, kein Partner, nichts dergleichen. Dafür war er ein Lügner, ein Betrüger und ein Spitzel. Eine Marionette. Ein waffentragender, schnüffelnasiger Schläger und professioneller Personenschützer von Bullet Catcher.
Es hatte so viele Hinweise gegeben – warum hatte sie nicht darauf geachtet? Sie unterdrückte ein Stöhnen. Und dann die angeblichen Bodybuildingkumpel! Die hatten sie wirklich vollends zur Närrin gemacht.
Aber wozu das alles? Sein Auftrag bestand sicherlich darin, Lucy Sharpes Anordnungen auszuführen, wofür er zweifellos fürstlich entlohnt wurde. Aber was kümmerte es Lucy, wie es ihrer Nichte erging? Was bezweckte diese kaltherzige Zicke, die sich dreizehn Jahren zuvor von ihrer Schwester und deren Familie für immer abgewandt hatte?
Es war fast fünf Uhr, als der Zug in die überirdisch liegende Haltestelle Charles Street einfuhr. Sollte sie es wirklich wagen, nach Hause zu gehen? Ja. Denn diesmal würden weder fadenscheinige Ausreden noch selbst gebrutzelte Köstlichkeiten noch markerschütternder Sex etwas ändern.
Außerdem durfte er nicht diese Macht über sie haben, sie von zu Hause fernzuhalten oder davon abzubringen, das Geheimnis um Keishas Tod zu lüften. Sie würde tun, was notwendig war, um die erforderlichen Antworten zu bekommen, selbst wenn sie dafür sein charmantes Lächeln ertragen müsste.
Um Antworten zu bekommen, musste sie sich am besten noch einmal entführen lassen, denn sie traute den Informationen nicht, die sie von Lucy bekommen hatte. Wer wusste schon, was diese Frau wirklich im Schilde führte? Das nächste Mal würde ihre Fantasieentführung nicht von Lucy und deren Bande unterbrochen werden. Sie würde sich heute Abend noch anmelden.
Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit Stunden nichts gegessen hatte. Vielleicht sollte sie zuallererst etwas essen, um allen etwaigen Verführungsversuchen besser widerstehen zu können. Zumindest denen, die mit Essen zu tun hatten.
Am Fuß der Treppe zur Haltestelle bog sie um die Ecke und öffnete ihre Tasche, um das wiederaufladbare Ticket wieder zu verstauen. Dabei spürte sie plötzlich, wie sie eine starke Hand von hinten am Ellbogen fasste. Sie schnappte nach Luft und erstarrte. »Ist das deine Art, mir zu beweisen, dass ich einen Schläger brauche, der mich beschützt ?«
»Nein, das ist meine Art, Sie auf nette Weise zu überraschen .«
Sie wandte sich zu der melodiösen Stimme um. »Alonzo! Was machen Sie denn hier ?«
»Meinen Sie, ich bin mir zu fein, um mit der Bahn zu fahren ?«
Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. »Ich bin so froh, Sie zu sehen .«
Er zwinkerte aus seinen grauen Augen.
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