Burgfrieden
politisch korrekten Umhängetasche. Zu blöd, dass sie ausgerechnet heute ihren Laptop nicht dabei hatte. Aber Papier und Stift würde sie auf jeden Fall finden, dessen war sie sicher. So konnte sie die Zeit mit Notizen zu ihrem neuen wissenschaftlichen Aufsatz wenigstens einigermaßen sinnvoll überbrücken.
Nachdem sie die benötigten Utensilien aus den Tiefen des Behältnisses aus recycelbarem Material ans Tageslicht befördert hatte, begann sie umgehend, ihre Thesen aufs Papier zu werfen. Wiederholt runzelte sie die Stirn, strich eine eben geschriebene Zeile durch und begann wieder von Neuem. Die Arbeit ging ihr heute nicht so recht von der Hand. Dabei konnte sie es sich wirklich nicht leisten, ihre Zeit noch länger zu vergeuden.
Ein wenig konsterniert sah sie zu Professor Kammelbach hinüber, der mit den Studenten diskutierte. Nach dem Verschwinden der Handschrift und der gestrigen erfolglosen Suche hatte er ihnen eröffnet, dass sie heute eine Exkursion zum Schloss Tirol machen würden – um in der Höhenluft den Kopf frei zu bekommen, wie er gemeint hatte.
Xenia hatte den Vorschlag umgehend gutgeheißen. Im kommenden Jahr sollte auf der Burg die Ausstellung über Oswald von Wolkenstein, neben Walther einer der bedeutendsten Dichtersänger des Mittelalters, stattfinden. Da konnte es nicht schaden, sich die Örtlichkeit einmal genauer anzusehen – zumal Xenia zu jenen ausgewählten Kapazitäten gehörte, die beim großen Eröffnungssymposium ein Referat halten durften.
Nun aber standen sie vor verschlossenen Türen. Heute wegen Renovierungsarbeiten ausnahmsweise geschlossen. Das Schild am Eingang war so unmissverständlich wie die Tatsache unumstößlich. Wie hatte dem Professor ein solcher Fehler unterlaufen können? Er hätte sich vorher erkundigen müssen, anstatt einfach auf die Angaben von Blasius Botsch zu vertrauen, der ihnen versichert hatte, dass heute geöffnet sei. Der hätte sich vorher rückversichern können, von Burgdirektor zu Burgdirektor. Aber er war so darauf erpicht gewesen, sie heute von Runkelstein fernzuhalten, dass er ganz offensichtlich nicht die nötige Sorgfalt hatte walten lassen.
Arthur wäre eine solche Nachlässigkeit früher jedenfalls nicht unterlaufen, dessen war sie sich sicher. Er kam langsam in die Jahre. Zeit, den Lehrstuhl für eine jüngere Person freizumachen. Dass sie selbst diese Person sein würde, daran bestand für Xenia kein Zweifel. Sie hatte sich als feministische Wissenschaftlerin profiliert und bisher eine glänzende Karriere an der Uni hingelegt. Zur Krönung fehlte ihr nur noch der Professorentitel. Und der würde wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Auch das noch. Jetzt hatte ihr Kugelschreiber den Geist aufgegeben. Ärgerlich begann sie noch einmal in ihrer Tasche zu wühlen, als ihre Finger auf einen Gegenstand trafen. Xenia gönnte sich einen kurzen Augenblick, ihn in der Hand zu spüren. Die Berührung vermittelte ihr etwas Tröstliches. Bald würde sie ihr Ziel erreicht haben.
*
»Wir sollten uns Schloss Siegmundskron ansehen. Da hat der Reinhold Messner ein Mountain Museum draus gemacht.« Der Vorschlag kam von Tina Ebner.
»Warum in die Ferne schweifen, holde Maid? Lasst uns doch Meran erkunden und sehen, was die Kurstadt an Attraktionen zu bieten hat.« Mordred schien es offenbar nicht eilig zu haben, die Gegend hier wieder zu verlassen.
»Wir könnten auf den Ritten und von dort mit der Bahn zu den Erdpyramiden fahren. Das lohnt sich.«
Der letzte Vorschlag war von Lukas gekommen. Im Gegensatz zu Tina, die Schloss Sigmundskron offenkundig nur vom Hörensagen kannte, klang es fast so, als wäre Lukas schon einmal am Ritten, dem Hausberg der Bozner, gewesen. Der Junge schien sich jedenfalls in der Gegend besser auszukennen, als Professor Kammelbach es ihm zugetraut hätte. Vielleicht würde es ihm ja gelingen, die anderen zu überzeugen. Georg Kofler, der sie mit dem Van nach Meran gebracht hatte, könnte sie wieder zurück und zur Talstation der Seilbahn bringen. Besser noch, er fuhr sie gleich in das auf ungefähr 1200 Metern gelegene Oberbozen. Dort könnten sie dann die Schmalspurbahn, die letzte erhaltene in Europa, nach Klobenstein nehmen und das verbleibende Stück zu den Erdpyramiden, einer eindrucksvollen Lehmformation aus der Späteiszeit, zu Fuß zurücklegen. Alles wäre besser, als hier müßig herumzustehen. Er selbst fühlte sich allerdings ausgebrannt und hatte keine Kraft mehr, noch irgendwelche Ideen
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