Burgfrieden
Perspektive aus hatte sie diese im Blickfeld. Jetzt wurde ihr auch klar, was der Unterschied zu der Karte, die sie gefunden hatte, war. Die Darstellung zeigte nicht das historische Zentrum, sondern ganz Bozen, allerdings in einem wesentlich kleineren Maßstab. Dafür reichte die erfasste Fläche bis an die Peripherie hinaus. Auch dort waren wieder die Sehenswürdigkeiten anschaulich in 3-D-Grafiken abgebildet. Schloss Sigmundskron im Osten, im Norden Schloss Runkelstein und im Süden die Haselburg. Ganz im Westen, nahe der Station der Rittner Seilbahn, war eine kleine Kirche zu erkennen. Jenny konnte den Namen nicht entziffern, dazu hätte sie ihre Lesebrille benötigt. Aus Eitelkeit vermied sie es, diese in der Öffentlichkeit zu tragen. Eines sah sie aber auch so ganz deutlich: An der Stelle, an der die Kirche eingezeichnet war, befand sich ein Kreuz.
*
»Geh’ nach St. Magdalena zum Jüngsten Gericht.
Der Engel mit der Posaune ist es nicht.
Verneige dich vor dem mit dem Stab
Und sieh nach hinter dem Altar von Krad.«
Lenz las die Verse zuerst leise für sich und dann mit lauterer Stimme Jenny vor. St. Magdalena, das für seinen Rotwein bekannte Weingebiet in Bozen, sollte also die nächste Station sein. Lenz kannte auch die kleine, auf einem Hügel gelegene Kirche gut. Im spätromanischen Stil Ende des 13. Jahrhunderts errichtet hatte sie wegen ihrer künstlerisch herausragenden Fresken eine gewisse Berühmtheit erlangt und Aufnahme in den einschlägigen Prospekten gefunden. Besondere Bedeutung kam dabei dem Magdalenazyklus zu, der die Legende der Heiligen Magdalena in zehn Bildern erzählte, die die Nord- und Südwand der Kirche schmückten.
Er erinnerte sich auch daran, dass die Kirche zwei Altäre besaß. Einen schlichten vorne in der Apsis und einen wesentlich prächtigeren im rückwärtigen Bereich. Dabei handelte es sich um ein barockes Prunkstück aus dem 17. Jahrhundert, so viel wusste er noch. Gut möglich, dass das der Altar von Krad war, auf den die letzte Verszeile hinwies. Beim »jüngsten Gericht« konnte es sich demnach nur um die Malerei auf der hinteren Rundbogenwand handeln.
»Gibt es dort auch Engel. Muss einer davon zum Versteck zeigen.« Lenz hatte Jenny in seine Kenntnisse und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen eingeweiht. »Weiß ich aber nicht, ob es sich lohnt, dort nachzusehen.« Jetzt war es Lenz, der die Aktion am liebsten beendet hätte. Er hatte so seine Zweifel, ob sie hinter dem Altar tatsächlich etwas finden würden. Zu einfach erschien ihm diesmal die Lösung im Vergleich zu dem doch ziemlich kniffligen Rätsel, das sie in der Dominikanerkirche zu lösen gehabt hatten. Zudem gab es noch weitere triftige Gründe, deretwegen er davor zurückscheute, seinen Heimatort aufzusuchen.
Doch Jenny, die eben noch alles hatte hinschmeißen wollen, war wieder Feuer und Flamme. Der neue Hinweis schien ihren Jagdinstinkt erneut entfacht zu haben.
»So einfach ist das Rätsel gar nicht. Es kommt dir nur so vor, weil du dich in St. Magdalena besser auskennst als in der Dominikanerkirche.« Sie nippte noch einmal an ihrem Lemonsoda. »Für mich gibt es zwischen den beiden Versen keinen großen Unterschied.« Nachdenklich ließ sie ihre Blicke über die Promenade schweifen. »Es sei denn, man zieht in Betracht, dass der Sechszeiler sich nicht gereimt hat. Der Vierzeiler tut das aber schon.«
Lenz schlug sich mit der Hand an die Stirn. Wie hatte er das übersehen können. Gerade ihm als »Poeten und Klangmaler«, wie er sich selbst gerne bezeichnete, hätte das auffallen müssen. »Handelt es sich um zwei verschiedene Personen, die die Gedichte verfasst haben.« Falls man hier überhaupt von Gedichten reden konnte. Die Sache wurde immer verzwickter. Vielleicht konnte sich Jenny einen Reim darauf machen.
Die hatte in der Tat eine Schlussfolgerung parat.
»Damit ist klar, dass Mordred einen Komplizen hatte. Der unterschiedliche Stil der Verse beweist das.« Zur Bekräftigung schlug Jenny mit der flachen Hand auf die vor ihr liegende Karte. »Oder eine Komplizin.« Lenz hätte sich von Jennys Logik beinahe anstecken lassen. Aber so simpel, wie sie es jetzt darstellte, konnte es nicht sein. »Glaube ich nicht, dass Mordred die Handschrift gestohlen und sie dann jemand anderem gegeben hat, der sie für ihn versteckt.« Lenz schien das viel zu weit hergeholt. Außerdem, wenn Jennys Theorie stimmte, dass Mordred der Dieb war und es zwei verschiedene Verfasser der Rätsel gab,
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