Burgfrieden
Bildnis des Täufers angelangt. Die Frau beugte sich über die Grabplatten, so als suche sie nach etwas. Aber was machte sie jetzt?
Das Tempo, mit dem sich Michele Emanuelo von seiner sitzenden in eine stehende Position manövrierte, überraschte ihn selbst. Eben hatte er gesehen, wie die Frau sich am Absperrseil zu schaffen machte. So rasch es ihm seine ausufernden Massen erlaubten, setzte er sich in Bewegung.
*
»Eine Sekunde noch, gleich habe ich es.« Jenny kauerte auf den Knien vor dem Altar und versuchte zum wiederholten Mal, das Papier in der Mauerspalte zwischen Daumen und Zeigefinger zu kriegen. Lenz’ Warnung, dass hier eine Videokamera installiert sei, hatte sie bisher ignoriert. Jetzt wurde es langsam brenzlig. Wenn da wirklich in der Nähe einer saß und sie beobachtete, wie sie sich hier im abgesperrten Bereich zu schaffen machte, dann war hier vermutlich bald die Hölle los. Und das ausgerechnet in einer Kirche. Beim Gedanken an dieses Paradoxon entspannte Jenny sich ein wenig. Ihre Hand glitt etwas tiefer in den Spalt, im nächsten Moment bekam sie das Papier zu fassen. Vorsichtig, um es nicht wieder fallen zu lassen, zog sie es heraus. Geschafft!
»Che cosa sta facendo qui, signora?«Die Stimme in ihrem Rücken ließ sie jäh in der Bewegung innehalten. Ein Kirchenaufseher. Oder war es etwa gar schon die Polizei, die wissen wollte, was sie da machte? Langsam begann Jenny sich aufzurichten, als sie plötzlich Lenz sprechen hörte.
»La mia fidanzata sta cercando l’anello di fidanzamento, crede d’averlo perduto qui.«
Das erste, worüber Jenny sich wunderte, war, dass Lenz sie als »fidanzata«, als seine Verlobte, zumindest aber seine Freundin – der Wortsinn war hier ein doppelter – bezeichnet hatte. Dann erst wurde ihr klar, dass er gerade dabei war, ihr aus der Patsche zu helfen. Gar keine schlechte Idee zu behaupten, sie suche ihren Verlobungsring. Gleich würde sie sich umdrehen und sagen, dass sie ihn leider nicht gefunden habe, als ihr das Manuskript einfiel. Sie hatte es immer noch in der Hand, und der Wächter oder wer immer da jetzt hinter ihr näher kam, würde es mit Sicherheit an sich nehmen. Sie musste sich rasch etwas einfallen lassen.
Jetzt hörte sie wieder Lenz sprechen:
»Guardi, é fatto così. So sieht er aus.« Aus ihrer immer noch leicht gekrümmten Position drehte Jenny jetzt vorsichtig den Kopf über die Schulter. Ein unglaublich dicker Mann in Uniform stand dicht neben Lenz und schien etwas eingehend zu studieren, das der andere ihm hinhielt. Einen Ring? Sie konnte sich nicht daran erinnern, einen an Lenz gesehen zu haben. Egal, das würde sie schon noch in Erfahrung bringen. Jetzt galt es, die Handschrift vor den Blicken des Aufsehers in Sicherheit zu bringen. Jenny bückte sich noch einmal tief, nahm ihren Fahrradhelm, den sie neben sich auf den Boden gelegt hatte, setzte ihn sich auf den Kopf und zurrte den Verschluss unterm Kinn fest. Dann kletterte sie unter der Absperrung hindurch, richtete sich auf und sagte mit fester Stimme:
»Ich habe leider nichts gefunden.«
Die Aufsichtsperson sah sie verständnislos an. Lenz beeilte sich, dem Mann auf Italienisch zu erklären, dass seine Freundin, die aus Österreich komme und hier bei ihm zu Besuch sei, das Schmuckstück wohl anderswo verloren habe. Der »gentilissimo signor custode«, der äußerst liebenswürdige Herr Aufseher, möge die Unannehmlichkeiten verzeihen, die sie ihm bereitet hätten.
Der so Angesprochene legte den Kopf schief und dachte – eine Ewigkeit wie es Jenny vorkam – nach. Schließlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben.
»Ci vado io a guardare.« Er werde selbst nachsehen. Plattfüßig watschelte er zum Altar, reckte sich so weit vor, dass er über seine mächtige Leibesfülle sehen konnte und äugte auf die Grabsteine. Ächzend brachte er sich wieder in eine aufrechte Position. »Da ist nichts.« Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich bedächtig auf der Stoppelglatze. »Mi dispiace ma Lei dovrà comprare un gioello nuovo per la sua ragazza.« Lenz würde seiner Freundin neuen Schmuck kaufen müssen, so der Wächter, der jetzt Richtung Ausgang stapfte. Mit einem unmissverständlichen Kopfrucken bedeutete er Lenz und Jenny, ihm zu folgen.
Sieben
Auf einer der Bänke, die den Aufgang zum Schloss Tirol, einer bei Meran gelegenen Burg von noch beeindruckenderen Ausmaßen als Runkelstein, säumen, saß Xenia Schmied-Schmiedhausen und kramte in ihrer
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