Burgfrieden
der tatsächlich spie, war zwar nicht ersichtlich, aber jeder nur einigermaßen fantasiebegabte Betrachter konnte sich gut vorstellen, dass das Untier in seinem Todeskampf giftige Dämpfe ausstieß.
Mit langen Schritten ging Lenz auf das Gemälde zu und bedeutete Jenny, ihm zu folgen. Jetzt sah auch sie das Bildnis und musste sich eingestehen, dass es wohl dem Inhalt des Verses entsprach und dass sie in Folge gut daran täte, das Rätsel Zeile um Zeile zu lösen, anstatt Lenz zu Schritten zu drängen, die sie nur in die Irre führen würden. So gelangten sie ohne weitere Zwischenfälle in den Lettner. Im Gegensatz zum ersten düsteren Kirchenteil präsentierte sich ihnen dieser Raum, an dessen Front sich der Altar befand, hell und lichtdurchflutet.
»Muss hier irgendwo der Eingang zur Kapelle sein.« Lenz’ Erinnerung an den Besuch während der Schulzeit kehrte bruchstückhaft zurück. Im nächsten Moment hatte er die im Verhältnis zur Gesamthöhe der Kirche vergleichsweise niedrige Spitzbogentüre auch schon entdeckt. Ein Flügel war geschlossen, der zweite schien nur angelehnt. »Ist wenigstens nicht zugesperrt.« Lenz konnte den Satz gerade noch zu Ende sprechen, als Jenny auch schon bei der Türe war, diese aufstieß und gleich darauf wie vom Donner gerührt stehenblieb. Ein überwältigender Anblick bot sich ihr. Der längliche, rechteckige Raum war mit Fresken geradezu übersät. Vom Steinfußboden bis hinauf zur Decke reichten die farbenprächtigen Darstellungen, die offensichtlich Legenden aus der Bibel erzählten.
So etwas hatte sie noch nie gesehen. Jenny musste sich festhalten und tastete nach dem Türrahmen, als sie Lenz’ Brustkorb zu fassen bekam. Rasch zog sie ihre Hand weg und wandte sich ihrem Begleiter zu, als ein Bildnis rechts vom Eingang ihre Aufmerksamkeit fesselte. Direkt vor ihr lag ein Mann nackt auf einer Streckbank, rund um ihn standen die Folterknechte und fügten ihm grauenvolle Verletzungen zu. Ein leuchtend roter Streifen, der vom Brustansatz bis zum rechten Oberschenkel reichte, zeigte an, wo sie ihn schon aufgeschlitzt hatten. Zwei Männer, die am Boden knieten, waren gerade dabei, dieselben Schandmale auch seinen Armen zuzufügen.
Jenny riss sich von dem Anblick los. Das Bild war einfach zu grauslich, das musste sie sich nicht länger ansehen. Gerade, als sie sich den weitaus tröstlicheren Heiligendarstellungen im Altarbereich zuwenden wollte, begann Lenz wieder zu lesen:
»Erschaure nicht vor dem Blut des Bartholomä«, lautete die nächste Verszeile. Jetzt verstand Jenny. Der Hinweis bezog sich auf das Märtyrerbild, das sie eben noch in seinen Bann gezogen hatte. Sie fragte sich gerade, ob sie sich nun jede einzelne dieser teils blutrünstigen Darstellungen zu Gemüte führen mussten, als Lenz, der ein Stück weiter auf den Märtyrer zugegangen war, sie zu sich winkte. »Gibt es hier Nummern mit einer Erklärung.«
Das machte die Sache erheblich einfacher. Es galt, nur noch zwei Verse zu enträtseln, und die nummerierten Fresken, denen auch ein Plan der Kapelle beigefügt war, würden ihnen dabei wohl helfen. »Die nächste Zeile bezieht sich auf die Nummer 14: Flucht nach Ägypten.« Beinahe hätten sie es gleichzeitig gesagt und schon hatten sie das Gemälde entdeckt, das Maria und Josef mit dem Jesuskind auf einem Esel zeigte. Aus dem Vers selbst wurden sie aber vorerst nicht schlau.
»Fliehe nicht nach Ägypten. Was ist damit nun wieder gemeint?« Jenny, die die Frage gestellt hatte, sah ein wenig genervt zu Lenz auf. Der stand mit verschränkten Armen einem Ölgötzen gleich vor dem Bild und tat mit keinem Laut kund, ob er ihren Einwurf überhaupt gehört hatte. Ratlos sah Jenny zu dem mit einem Sternenhimmel geschmückten Deckengewölbe hoch, als Lenz wieder zu sprechen begann:
»Schauen sie nach Norden, zurück zum Heiligen Bartholomäus. Liegt dort also Ägypten. Müssen wir in die andere Richtung gehen.«
Das klang logisch. Ein wenig bewunderte Jenny ihn sogar dafür, wie rasch er anhand der Angaben auf dem Plan die Orientierung gefunden hatte. Ihr wäre das zugegebenermaßen nicht so leicht gefallen. Jetzt schien er schon wieder etwas entdeckt zu haben, denn er war stehen geblieben und betrachtete konzentriert das Bildnis vor sich. Jenny trat zu ihm und nahm ihm die Karte aus der Hand.
»Sondern verneige dich vor dem Mann ohne Gesicht.« Das war die letzte Zeile des Spruches. Auf dem Gemälde, vor dem sie jetzt standen, war laut der Nummerntafel das
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