Bußestunde
ich bin stolz auf sie alle, jeder ist anders, nicht zuletzt Klein Lina, die eine viel zu frühe Pubertät durchlebt, mit einem heftigen Strom ständiger Wechsel von Stil und Einstellung. Im Moment ist sie »goth« und redet mindestens fünfmal täglich davon, das »eklige weißblonde Strohhaar« rabenschwarz zu färben. Mit knallrosa Strähnen. Klein Lina, allein dass sie überhaupt lebt, ist ein Wunder, er kann es nicht lassen, es sich selbst immer wieder zu sagen. Vor einem Jahr bekam sie einen Wespenstich in der Schule, als sie die Hand in einen Busch steckte. Es gab eine Beule unmittelbar oberhalb des Handgelenks. Eine Schwellung. Ein klassischer Wespenstich. War es aber nicht. Ein Mörder saß in den Büschen auf dem Schulhof versteckt und injizierte dem Kind – bizarr genug – eine Giftampulle mit Fernauslöser in den Arm. Sie holten das Objekt später heraus, aber ihr Leben hatte am seidenen Faden gehangen. Selbst weiß sie nichts davon, Klein Lina, und dafür ist er unendlich dankbar.
In diesem Augenblick, als Arto darüber nachdenkt, wie grundverschieden von seiner eigenen Jugend das Heranwachsen heutiger Jugendlicher ist, wie das gesamte heranwachsende Menschengeschlecht ein völlig anderes werden wird als das gegenwärtige, wirft Lina dem eigensinnigen Vater, der ihrem rabenschwarzen Glück im Weg steht, erneut einen bösen Blick zu, und gerade dieser Blick, den er wie eine Ehrenbezeigung aufnimmt, weckt aufs Neue die Lust in ihm, eine Ansprache zu halten.
Wer weiß, wann wir alle sieben wieder zusammenkommen? Denkt er und hebt den Löffel an das Latte-macchiato-Glas, das vor ihm steht.
Vielleicht werden wir es nie mehr.
Einige von ihnen sehen die Geste, und das missvergnügte Stöhnen wandert von einem weißen Kopf zum nächsten, und am Ende hören sie sich an wie eine ungestimmte alte Orgel.
Wirklich wie Orgelpfeifen.
Als Arto Söderstedt aufsteht und das ganze Leben vor sich betrachtet, fährt der Tod wieder durch ihn hindurch, und als der Klang vom Glas aufsteigt und das Stöhnen von einer Art paradoxer Erwartungshaltung abgelöst wird, bleibt er einen Moment mit geschlossenen Augen stehen.
Er denkt: Viggo.
Und das ist alles.
Hier verlassen wir die Familie Söderstedt. Von hoch oben sehen sie aus wie sieben verirrte Schneebälle auf dem Rasen des Hagaparks, gerade als der Herbst von ihm Besitz ergreift; eigentlich setzt sich der Park auf der anderen Seite von Schwedens am stärksten befahrener Straße fort, der E 4, dem Uppsalavägen zwischen Norrtull und Haga Norra. Der Norra-Friedhof dort erstreckt sich über ein mindestens ebenso großes Areal wie der Hagapark, mit einem viel komplizierteren, fast künstlerisch ausgeformten, spinnennetzartigen Wegesystem und zahlreichen speziell gestalteten kleinen Sektionen, die seit der Einweihung im Jahr 1827 entstanden sind. Der Friedhof ist mehrfach erweitert worden, da es sich die Stockholmer nicht nehmen ließen zu sterben, und es gibt große Abteilungen mit Mausoleen und verschiedenen großartigen Grabanlagen, nicht zuletzt auf dem Hügel, der Lindhagens Kulle genannt wird, wo die imposantesten Monumente einander in postumer Größe zu übertreffen versuchen. Genau dort wandert gerade ein Mensch entlang, eine kleine dunkelhaarige Frau mit gesenktem Kopf und gebeugtem Nacken. Sie blickt sich nicht um und betrachtet die großartigen Grabmonumente, die Außenwelt scheint sie nicht zu erreichen, sie ist in sich selbst versunken. Auf ihrem Weg ist sie an Alfred Nobels Grab vorübergegangen, in einem der älteste Teile, die der Autobahn am nächsten liegen, sie hat August Strindbergs Grab unter der schicken Doppelbirke passiert, Ingrid Bergmans anspruchslosen kleinen Stein und Gösta Ekmans umso anspruchsvolleren in die Saiten greifenden Engel von Carl Milles. Und jetzt geht sie an dem geschmackvollen Hain des Gedenkens vorbei, ohne das Geringste davon wahrzunehmen. Sie denkt nämlich an den Tod. Das ist hier wohl auch angebracht. In Anbetracht des Todes an das Leben zu denken vielleicht auch.
Kerstin Holm hat ein Grab besucht und ist auf dem Weg zu einem anderen. Sie wandert zwischen Gräbern. Sie ist die operative Chefin der Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, und sie mag den Tod nicht. Tatsache ist, dass sie ihn bekämpft, das ist der eigentliche Beweggrund für ihre Arbeit. Und das Grab dieses Kollegen zu besuchen schmerzt am meisten. Er ist erst vor so kurzer Zeit gestorben.
Während
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