Bußestunde
ob er es noch wagen darf, von einer Familie mit Kindern zu sprechen. Denn die Kinder sind zu diesem Zeitpunkt zweiundzwanzig, zwanzig, siebzehn, fünfzehn und zwölf, und sie tragen in dieser Reihenfolge die Namen Mikaela, Linda, Peter, Stefan und Lina. Und das Allererstaunlichste ist, dass alle fünf versammelt sind, genau hier, auf den Wiesen vor den Kupferzelten, an jener Stelle, wo sie langsam schräg abfallen zu dem enormen Grashang des Hagaparks.
Lina ist auf jeden Fall immer noch ein Kind, denkt das Oberhaupt und betrachtet seine Jüngste mit besonderer Zärtlichkeit. Dass sie überhaupt noch lebt, ist nichts Geringeres als ein Wunder – es ist erst ein Jahr her, dass sie um ein Haar Opfer des polizeilichen Übermuts ihres Vaters wurde.
Arto Söderstedt denkt an den Tod, er denkt an dessen Anwesenheit in seinem Leben – nicht zuletzt im vergangenen Jahr. Seine Gedanken gehen von dem Erlebnis der Todesgefahr für seine Tochter zum Tod von Kollegen und Nahestehenden. Es ist ein schweres Jahr gewesen. Der Tod ist nicht mehr abstrakt, gerade im vergangenen Jahr kam er so nah, wurde er so konkret, so wirklich.
Er streicht seiner Frau Anja über den Oberarm, während er von dem Impuls überwältigt wird, etwas zu sagen – vielleicht sogar eine kleine Ansprache zu halten. Er betrachtet seine große Familie, alle diese weißblonden Köpfe, deren Größenunterschiede sich inzwischen anzugleichen beginnen, und er fühlt, dass er jetzt, wo sie endlich versammelt sind, ganz einfach dem Leben huldigen will. Dem ach so zerbrechlichen Leben.
Wieder kommt ihm ein Bild kürzlich verstorbener Nahestehender in den Sinn.
Er schaudert und betrachtet seine Kinder, eines nach dem anderen.
Das Leben anstelle des Todes. Und gleichzeitig so furchtbar viel potenzieller Tod.
Mikaela, wie groß sie geworden ist, eine vitale und ziemlich ernsthafte zweiundzwanzigjährige Handelshochschulstudentin mit finnischen Wangenknochen und einem Lächeln, dem niemand widerstehen kann, am wenigsten Männer. Er hat es aufgegeben, alle Freunde zu zählen, die an ihm vorbeizogen seit jenem magischen und tragischen Sommer in der Toskana vor Gott weiß wie vielen Jahren, als sie ihre Unschuld verlor. Sie hat kürzlich eine eigene Wohnung bekommen, endlich, nach zwei Jahren im Studentenheim, und hat plötzlich aufgehört, die Armut ihres Vaters zu verfluchen, und begonnen, sich in ihrer Mietskaserne in Hägersten wohlzufühlen. Dann Linda, immer die kleine Schwester, obwohl sie ja für wesentlich mehr Geschwister die große Schwester ist. Mit zwanzig sollte man zumindest den Hauch einer Ahnung haben, womit man seine Zukunft verbringen will. Stattdessen all diese Reisen in die entlegensten Winkel des Erdballs, dieses lässige Herumjobben, zu Hause bei den Eltern wohnend, bis genügend Geld da ist, um das wirkliche Leben zu beginnen, dieses Reisen mit diversen durchgeknallten Studenten, deren Beziehung zu der nicht minder durchgeknallten Linda äußerst diffus ist. Das Erstaunlichste am gesamten Lebenswandel seiner Töchter besteht für Arto Söderstedt darin, dass er nicht schon mehrfacher Großvater ist. Doch auch was der sonderbar athletische Wikinger Peter in seinem Internat an den Abenden treibt, ist, gelinde gesagt, unklar. Er besucht ein Handballgymnasium in Skövde und ist schon mit fünfzehn von zu Hause ausgezogen. Sosehr Arto auch die gesamten Genbanken der Familie durchforstet, es bleibt ihm unbegreiflich, wie der jetzt siebzehnjährige Sohn es geschafft hat, fast zwei Meter groß zu werden und gut neunzig Kilo zu wiegen. Vor Kurzem hat Peter in der A-Mannschaft des IFK Skövde sein Debüt gegeben, und Arto hatte zugesehen. Noch immer wundert er sich über die gesammelte Energie, die während eines Handballspiels in der Eliteklasse verbraucht wird. Und im Innersten ist er – der nie an etwas anderem als Leichtathletik Gefallen gefunden hat – sehr, sehr stolz. Ob er auch auf Stefan stolz sein soll, ist dagegen eine ganz andere Frage. Stefan Söderstedt ist eine Kopie seines Vaters, weißblond und hager und dazu noch Brillenträger. Er macht seine Hausaufgaben mit links und widmet sich in seiner Freizeit äußerst diffusen Wissensgebieten, die häufig diverse Verschwörungstheorien beinhalten. Er steht mit Massen von Communitys im Internet in Verbindung, die über Petitessen wie den eigentlichen Ursprung des Menschengeschlechts und politische Lösungen für die unausweichliche Klimakrise des Erdballs diskutieren. Doch, denkt Arto, doch,
Weitere Kostenlose Bücher