Bußestunde
war – eher haben Sara Svenhagen und Jorge Chavez wohl die üblichen Spannungen und Konflikte durchlebt, die mit der Elternschaft einhergehen, und möglicherweise sind sie manchmal etwas zu weit gegangen, doch im Nachhinein war alles halb so schlimm. Es gibt immer noch Phasen des Schweigens zwischen ihnen, aber jetzt sitzen sie wirklich dort am Mälarpavillon bei Norr Mälarstrand, die Füße nur ein paar Meter vom immer kälteren Wasser des Mälarsees entfernt, und fühlen das Gleiche.
So sieht das Leben normalerweise nicht aus. Wir wissen eigentlich nie, was der andere fühlt, und wir können nur vermuten, dass das, was wir beispielsweise Zufriedenheit nennen, für den, der uns am nächsten steht, die gleiche Empfindung ist. Aber gerade in diesem Moment, da die brisanteste Stunde des Umbruchs in diesem Jahr ihren Anfang nimmt, empfinden tatsächlich beide, Mann und Frau, die gleiche Zufriedenheit. Und außerdem sehen sie diese in den Augen des anderen, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Und genau in diesem Moment, da ihre Blicke sich treffen und Jorge sich ausstreckt, um mit der Hand über die deutliche Rundung von Saras Bauch zu streichen, genau da wissen sie auf eine banale, romantische und vollkommen selbstverständliche Weise, dass sie zusammengehören. Trotz allem.
Wir verlassen sie hier. So viel zuckersüße Sentimentalität hält man auf Dauer nicht aus. Wir schwenken ein Stück und verlassen das Unmögliche – nicht nur die unmögliche Romantik, sondern auch die Unmöglichkeit, in die Seele der Menschen zu blicken.
Aber es ist klar, dass das Unmögliche noch weitere Chancen bekommt.
Wir gleiten in westlicher Richtung am Strand von Kungsholmen entlang, an allen Brücken vorbei. Als Erstes die Västerbro, die sich nach Långholmen und Södermalm hinüberbeugt, danach Essingeleden, der über Lilla und Stora Essingen und von dort weiter hinaus nach Europa führt, und zuletzt die Tranebergsbro, die sich nach Alvik und Bromma hinüberspannt. Aber da halten wir inne, an dem Punkt, wo der Mälarsee sich zur katzenförmigen Bucht des Ulvsundasees hinaufzieht. Und dort, im Schatten der Tranebergsbro, sitzt ein anderes Paar vor einer roten Hütte, und wenn man die beiden dort eng umschlungen sitzen sieht, ist die Gefahr ziemlich groß, auch hier sentimental zu werden.
Ziemlich groß ist auch der Mann, die Frau verschwindet gleichsam in seiner Umarmung, und in wenigen Wochen werden sich die beiden in viel zu engen Flugzeugsitzen niederlassen und wieder ihr Paradies auf Erden besuchen. Das sich ganz unerwartet auch noch als ein gutes Geschäft erwiesen hat. Das kleine Häuschen an den Hängen der Nordostküste von Chios in der griechischen Inselwelt war den ganzen Sommer über vermietet, hauptsächlich an Schweden, aber auch an den einen oder anderen reichen Norweger, und die Mieteinnahmen haben nicht nur die jährlichen Kosten für das Häuschen gedeckt, sie reichen auch noch, um den Aufenthalt von Gunnar Nyberg und Ludmila Lundkvist dort im kommenden Monat zu finanzieren.
Vor einem Jahr wurde Gunnar Nyberg in den Arm geschossen, als es der Sondereinheit der Reichskriminalpolizei für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter, gelegentlich auch als A-Gruppe bezeichnet, gelang, das Einschmuggeln von Mörderpillen, sogenannten »kill pills«, nach Schweden zu verhindern. Er verbrachte den Monat seiner Krankschreibung in dem Häuschen auf Chios – Ludmila konnte sich nur die Hälfte der Zeit von ihrem neuen Posten als Professorin am Slawistischen Institut der Universität Stockholm freinehmen –, und die Zeit in Einsamkeit und Isolation auf Chios, vor der er sich gefürchtet hatte, wurde phantastisch. Seit er erwachsen war, hatte er im Großen und Ganzen allein gelebt, aber vor einigen Jahren hatte er dieses Leben nicht mehr gewollt. Er konnte nicht mehr so gut allein sein. Also war er ein wenig unsicher gewesen, wie er nun zurechtkommen würde. Doch als Ludmila auf dem unansehnlichen Flugplatz landete, mit einer noch unansehnlicheren Inlandmaschine, wurde sie von einem heiteren, sonnengebräunten, völlig entspannten Grizzlybären abgeholt. Womit er sich eigentlich in den zwei Wochen beschäftigt hatte, fand sie nie ganz heraus, aber eine der Schubladen des kleinen Sekretärs gleich neben der Verandatür war auf einmal verschlossen. Es war nicht Misstrauen, das sie antrieb – möglicherweise sagte sie sich das ein paarmal zu oft –, sondern Neugier, die Grundvoraussetzung der menschlichen
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