Butenschön
einen konkreten Anlass? Ich denke an frühere Drohungen, die Aussage eines Studenten in der Presse oder an eine vergleichbare Tat in den letzten Monaten.«
»Was ich bereits erwähnte: die Wut auf die derzeitigen Zustände an den Universitäten, auf Studiengebühren und all diesen Kram. Die Zeitungen sind doch voll von Demos, Streiks und Protesten.«
»Also eher allgemeine Vorzeichen, nichts Konkretes.«
Sie zuckte die Achseln. »Für mich konkret genug.«
»Gut. Und sonst? Können Sie sich weitere Motive vorstellen?«
»Braucht es für solche Aktionen immer ein Motiv? Was, wenn da einer einfach Langeweile hatte, Frust, zu viel gesoffen? Muss ich mir darüber Gedanken machen? Wenn Sie so wollen, können Sie das Motiv auch gleich in der Politik suchen. Das Neuenheimer Feld ist schon immer der Zankapfel verschiedener Interessengruppen gewesen, jede Erweiterung stößt auf Widerstand. Auch der Technologiepark hat damals eine Menge Gegner auf den Plan gerufen.«
»Damals, ja.«
»Dafür ist der Streit um die Straßenbahntrasse hochaktuell. Wenn sie durch den Klausenpfad geführt wird, also an der Campusgrenze entlang, steht die Erschließung der nördlichen Flächen kurz bevor.« Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Aber was rede ich mir den Mund fusslig? Es ist, wie gesagt, nicht mein Job, darüber zu spekulieren.«
»Dann erzählen Sie mir etwas über Ihre Arbeit. Auch wenn Sie ausschließen, dass es da eine Verbindung zu dem Anschlag gibt.«
»Das kann Michael genauso gut«, seufzte sie. Und als der abwehrte: »Meinetwegen. Aber sagen Sie Bescheid, bevor Sie einschlafen. Es ist schließlich ein wissenschaftliches Spezialthema.«
»Ich schau mal nach der Suppe«, grinste Deininger, sich erhebend. »Hat meine Mutter immer gekocht, wenn es mir schlecht ging. Lecker Hühnersüppchen!« Er tappte zur Küchenzeile hinüber, machte sich am Herd zu schaffen, hob einen Deckel, schnupperte und beschloss all diese Tätigkeiten mit einem zufriedenen »Aaah«.
»Geht es mir vielleicht schlecht?«, zischte Evelyn Deininger. »Sehe ich so aus, als ob es mir schlecht ginge?«
Achselzuckend nippte ich an dem Cappuccinoersatz.
»Meine Arbeit also«, sagte sie, nun wieder in normaler Lautstärke. »Ich bin Historikerin und promoviere über ein Thema der Medizingeschichte. Konkret geht es um einen Chemiker, der die Forschungslandschaft Deutschland geprägt hat wie kaum ein anderer.« Einer Zeitschriftenablage neben dem Sofa entnahm sie ein Exemplar der Neckar-Nachrichten, schlug eine Seite im Lokalteil auf und reichte mir das Blatt. »Hier, bitte.«
Es war die Zeitung von heute. Wie günstig, vielleicht fand sich darin ein Bericht über meine Lesung? Aber wenn es ihn gab, dann hatte er keine Chance gegen Romana, die auch am Dienstag die Lufthoheit über die Schlagzeilen hielt. Rund um die wildeste Hure von Heidelberg waren eine ganze Menge von Krawattenträgern abgebildet, die angeblich um ihren Ruf und ihren Posten bangten. Von diesem Jahrhundertskandal wurde selbst das andere Jahrhundertereignis glatt an den Seitenrand gedrängt: »Großer Bahnhof zum Ehrentag«, stand dort, der Artikel selbst aber war nur klein. Es ging um die Feierlichkeiten zu Prof. Albert Butenschöns 100. Geburtstag, der am kommenden Sonntag im Allerheiligsten der Universität begangen werden sollte. Die Namen der Eingeladenen, klangvoll und respektheischend: der Wissenschaftsminister, Rektor und Prorektoren, Prominente, Verdienstkreuzträger, hochrangige Vertreter aus Forschung, Wirtschaft und Kultur. Der Bürgermeister war nicht erwähnt, würde sich aber bestimmt ein Stündchen Skandalpause gönnen. Ein Foto, das den Artikel beschloss, zeigte den Jubilar, einen Greis mit hoher Stirn und dicker Brille.
»Diesen Namen habe ich gestern zum ersten Mal gehört.«
»So geht es vielen. Aber das wird seiner Bedeutung nicht gerecht. Nobelpreisträger wachsen in Deutschland schließlich nicht auf Bäumen. Butenschön hat jahrzehntelang die Max-Planck-Gesellschaft geleitet und in Heidelberg das Krebsforschungszentrum mit aufgebaut.« Sie rieb sich etwas aus den Augen. »Seine Tätigkeiten standen nie so sehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit wie die von Atomphysikern oder Genforschern. Trotzdem gehörte er wegen seiner Verbindungen zu Politik und Industrie zu den einflussreichsten Wissenschaftlern der Bundesrepublik. Ich würde sogar sagen, er war der wichtigste.«
»Klingt wie die harmloseste Promotion, die man sich denken kann. Was ist daran so
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