Butenschön
Sinn.
Wie gestern Abend stand der Haupteingang des Gebäudes offen. Ich wandte mich nach links, trat durch die Glastür, nickte dem Bronzekopf des Institutsgründers zu. Heute schaute er grimmig. Vielleicht knabberte er an seinem Dasein als Exilant im Technologiepark.
Die Teeküche, in der ich gestern mit Deininger gesessen hatte, war menschenleer. An der nächsten Tür bleckte ein Schild die Zähne: »Hier auf keinen Fall klopfen!« Um die Wahrheit zu sagen, stand dort bloß der Name eines Profs mit zwei Doktortiteln, aber das kam ja aufs Gleiche hinaus. Nichtakademiker, Finger weg! Genau deshalb klopfte ich und wurde sofort hereingebeten, wie schön. Eine gerunzelte Stirn, fragender Blick: »Ja?«
»Ich suche Frau Deininger.«
»Nun lassens die gute Frau doch bittschön in Ruhe! Hat Sie Ihr Chef nicht informiert?«
Wenn der Kerl die Hoheit über das Zimmer besaß, und danach sah er in seiner entspannten Haltung ganz aus, handelte es sich bei ihm laut Namensschild um Prof. Romuald Gärtner. Und wenn das stimmte, dann war er bereits in jungen Jahren in die akademische Champions League aufgerückt, denn ich schätzte den Mann auf Mitte 40. Höchstens. Vielleicht hatten lauter Frauen in der Berufungskommission gesessen. Gärtner war schlank, lockig, wettergegerbt. Mit einem Seil über der Schulter hätte er einen schicken Bergführer abgegeben. Sein ostalpiner Tonfall tat ein Übriges.
»Mein Chef?«, fragte ich zurück.
»Er hat mir versprochen, Frau Deininger bis zum Abend hier arbeiten zu lassen. Anschließend steht sie Ihnen wieder zur Verfügung.«
»Ich bin nicht von der Polizei, sondern ein Bekannter ihres Mannes. Ich wollte nur kurz sehen, wie es ihr geht.«
»Ein Bekannter?« Gärtner lehnte sich zurück und musterte mich. Klar, wie der Busenfreund eines Bankers sah ich nicht gerade aus.
»Michael Deininger hat mich gebeten, nach ihr zu sehen.«
»So?« Er musterte mich immer noch. Endlich wandte er den Blick von mir ab und dem PC-Bildschirm, vor dem er saß, wieder zu. »Zwei Türen weiter. Im Büro unseres Kollegen aus Taiwan.«
Ich war schon fast draußen, als er mir nachrief: »Darf ich Ihren Namen erfahren?«
»Koller. Max Koller.« Und ich habe ihn gestern Abend öfter schreiben dürfen als du während deiner gesamten Akademikerlaufbahn, setzte ich im Geist hinzu.
Auch der Kollege aus Taiwan hatte einen schönen Namen. Den ich mir allerdings nicht merken konnte. Auf mein Klopfen reagierte niemand, weder auf Deutsch noch auf Taiwanesisch, so dass ich schließlich ungebeten eintrat. Evelyn Deininger stand am Fenster und wandte mir ihren knochigen Rücken zu. Ich schloss die Tür. Erst jetzt drehte sie sich um, wortlos.
»Man könnte meinen, Sie hätten mit mir gerechnet«, grinste ich.
»Habe ich«, antwortete sie. Erst dachte ich, sie hätte mich beobachtet, als ich vorhin meinen Erkundungsgang über den Klausenpfad machte. Aber das Büro lag nicht wie ihr eigenes an der Nordseite des Gebäudes, sondern blickte auf eine Art Innenhof.
»Ihr Mann sagte mir, dass Sie schon wieder arbeiten.«
»Ich versuche es.«
Ja, sie versuchte es, aber es wollte wohl nicht so recht klappen. Auf dem Schreibtisch des Taiwanesen stand ein Laptop, über den bildschirmschonende Fischlein zogen, und dass Evelyn Deininger ihre Promotion vom Fenster aus weiterschrieb, konnte ich mir nicht vorstellen.
»Setzen wir uns?«
Sie nickte und ließ sich in einem Bürosessel nieder. Ich zog mir einen Stuhl heran.
»Also, Frau Deininger, Ihr Mann war vorhin bei mir. Ich übernehme den Fall.«
Keine Reaktion.
»Auch wenn Sie nicht davon begeistert sind.«
»Geht schon in Ordnung.«
»Ihr Mann und Sie sind unterschiedlicher Meinung, wer hinter dem Anschlag stecken könnte. Für mich ist das kein Problem, ich gehe ohnehin sämtlichen Spuren nach, auf die ich stoße. Am verheißungsvollsten von allen Motiven erscheint mir allerdings dasjenige, das Ihr Mann erwähnte: dass Sie als Doktorandin eingeschüchtert werden sollen. Sehen Sie das inzwischen nicht auch so?«
»Ist doch egal, wie ich das sehe«, entgegnete sie achselzuckend. »Wenn ihr Männer einer Meinung seid …«
»Dann«, vollendete ich den Satz, »sollten Sie als Frau sich dieser Meinung anschließen, richtig?«
Sie wich meinem Blick aus. »Okay, also noch einmal: Ich halte es für ausgeschlossen, dass meine Arbeit einen Mann wie Butenschön zu derart panischen Reaktionen veranlassen könnte. Selbst wenn er meine Veröffentlichungen fürchten müsste:
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