Butenschön
Er hätte doch ganz andere Möglichkeiten, mich unter Druck zu setzen. Von den Ordinarien der Universität kennt Butenschön die Hälfte persönlich. Ein Anruf genügt, und hier ist die komplette Abteilung in Aufruhr! Aber da war nichts, fragen Sie meinen Doktorvater.«
»Professor Gärtner?«
»Ja. Niemand hat bisher auch nur den kleinsten Einfluss auf meine Arbeit ausgeübt. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte.«
»Bisher ging es ja auch nicht um die verschollenen Akten aus dem Krieg.«
»Davon weiß Butenschön nichts.«
»Sind Sie sicher?«
»Sie sind der Erste, dem ich außerhalb des Instituts davon erzählt habe. Und selbst hier weiß nur Professor Gärtner von der Sache.«
»Und Ihr Mann. Und Koschak, der Journalist. Und vielleicht der eine oder andere Geldgeber, den man braucht, um die Dokumente zu kaufen.«
Ihre Augen wurden schmal. »Michael quatscht zu viel.«
»Bloß auf meine Veranlassung. Ich verstehe, dass Ihnen Geheimhaltung wichtig ist, Frau Deininger, und was mich betrifft, so können Sie sich darauf verlassen, dass ich keine Informationen weitergeben werde. Schließlich habe ich einen Ruf zu verlieren.« Einen kurzen Moment hielt ich inne, um über diesen Satz nachzudenken: Hatte ich das wirklich? Einen Ruf zu verlieren? Früher wäre mir eine solche Formulierung nie über die Lippen gekommen. Verdammt, kaum war man Krimiautor, wurde man ganz schön hochnäsig! »Also, keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas. Aber wie ist es mit diesem Journalisten? Er kann mit den Dokumenten hausieren gegangen sein, lange bevor er den Kontakt zu Ihnen gesucht hat. Für einen Reporter mit Ambitionen ist der Bittgang zu einer Wissenschaftlerin doch ein Armutszeugnis. Der letzte Ausweg.«
»Nein, es war der einzig richtige Weg. Um den Wert dieser Dokumente zu beurteilen, braucht es Fachleute.«
»Zugestanden. Trotzdem ist es möglich, dass Koschak vorher bei anderen angeklopft hat. Zum Beispiel bei Butenschön selbst, um zu sehen, ob dort etwas zu holen war.«
»Zu holen? Sie meinen, finanziell?«
»Was sonst?«
Sie atmete tief durch. »Gott ja, theoretisch ist das denkbar. Koschak hat mir natürlich hoch und heilig versprochen, dass ich als Einzige eingeweiht bin, aber darauf gebe ich nichts. Ich gebe viel mehr darauf, dass es in seinem eigenen Interesse lag und immer noch liegt, die Sache geheim zu halten. Er will die Schlagzeile, und je mehr Menschen von den Dokumenten wissen, desto größer ist die Gefahr, dass er teilen muss.«
»Ich würde mich gerne mal mit Koschak unterhalten. Wie kann ich ihn erreichen?«
»Muss das sein?«
Ich grinste sie an. Wenn schon Akademiker solche überflüssigen Fragen stellten, was war dann mit dem Rest der Menschheit?
»Er wohnt in Frankfurt«, seufzte sie. »Steht im Telefonbuch. Ich kann Ihnen aber auch seine Handynummer und Mailadresse geben.«
»Geben Sie.«
Schau an, sie wusste beide auswendig. Da schien es in letzter Zeit zu intensivem Kontakt gekommen zu sein.
»Er ist freier Journalist?«
»Das war er wohl schon immer. Er veröffentlicht überall, solange die Kohle stimmt. Bunte, Süddeutsche, Bild – egal. Auch Lokalblätter.«
»Wären die Dokumente nichts für die Bildzeitung? Mit der Schlagzeile ›Die dunkle Vergangenheit des Nobelpreisträgers‹ oder so ähnlich?«
Sie winkte ab. »Vergessen Sie’s. Viel zu unspektakulär, die Sache. Wäre Butenschön Lagerarzt gewesen oder Projektleiter eines Experiments an Häftlingen, dann ja. Aber das ist nicht der Fall, daran werden auch die verschollenen Dokumente nichts ändern. Ein Teil der Butenschön-Biografie wird möglicherweise neu geschrieben werden müssen. Nicht grundsätzlich neu, aber vielleicht in wesentlichen Details. Für die Wissenschaftsgeschichte ist das ein Ereignis, für den Bildzeitungsleser uninteressant. Das weiß auch Koschak, und deshalb kam er zu mir.«
»Haben Sie selbst einmal mit dem alten Butenschön gesprochen?«
»Nein. Nur mit seiner Frau. Sie ist fast 30 Jahre jünger als er und erledigt all seine Außenkontakte. Er selbst ist wohl nur noch begrenzt belastbar.«
»Gehören Gespräche mit der Person, über die Sie schreiben, nicht zur Promotion? Zumal der Kerl in Heidelberg lebt.«
»Wo er lebt, ist egal. Hätte ich ihn interviewen wollen, wäre ich auch nach Sydney geflogen. Aber darum geht es bei meiner Arbeit nicht. Es ist ja keine Biografie, sondern eine Untersuchung darüber, wie sein Lebenswerk die Wissenschaft und Wissenschaftspolitik der
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