Butenschön
nichts. In dieser Zeit konnte es einem anderen langweilig werden. Wenn man auf den Raucher wartete zum Beispiel. Warum sich also nicht unter die Piranhas begeben? Ich warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, sah, dass sich Evelyn Deininger nicht gerührt hatte, ging zum Schreibtisch zurück und tippte auf das Touchpad. Die Fischlein verschwanden.
Was ich zu finden hoffte? Nichts, gar nichts. Es gab keinen konkreten Plan, kein bestimmtes Ziel. Nur meine unstillbare Neugier. Wann bekam ich noch einmal so eine bequeme Gelegenheit herumzuschnüffeln? Und ein Schnüffler war ich, von Berufs wegen.
Evelyn Deininger hatte, wenig überraschend, an ihrer Dissertation gesessen. Einige geöffnete Textdokumente verrieten es. Sobald ich sie jedoch nach unten geklickt hatte, wurde ein Mailprogramm sichtbar, ebenfalls offen. Eine Erinnerungsmail der Universitätsbibliothek bezüglich Ausleihen. Ich rief die Übersicht auf. Die war schon wesentlich spannender, denn sie enthielt auch Privates. Natürlich, der Hauptteil der Nachrichten kam aus dem universitären Umfeld: von Profs, Doktoren, HiWis. Den Betreffzeilen nach ging es um Seminare, Arbeiten, Bücher, um Raum- und Terminfragen. Aber es gab auch Mails von Bärchen Michael, von Koschak und Dörte Malewski. Den Namen Butenschön entdeckte ich nirgends. Doch, da unten, ganz versteckt: eine Mail von Frau Butenschön.
Rasch vergewisserte ich mich, dass Evelyn Deininger noch auf ihrem Platz saß. Zurück zum Laptop, Aufruf der Nachricht: Sehr geehrte Frau Deininger, verbindlichsten Dank für Ihr Schreiben vom …« – ja, selbst auf elektronischem Wege blieb man stilvollendet – »… mein Mann und ich wissen es sehr zu schätzen, dass Sie sich mit Werk und Wirkung des ältesten noch lebenden deutschen Nobelpreisträgers beschäftigen. Die Stiftung Wissenschaftsforum hat uns nach Eingang Ihres Stipendienantrags um eine Stellungnahme in Form einer Beurteilung des Projekts gebeten. Ein solches Gutachten erstellen wir selbstverständlich gerne, sobald wir von Ihnen die folgenden Unterlagen erhalten haben.« Dem schloss sich eine Liste mit Wünschen an: ein Abstract der Arbeit inklusive Gliederung, Inhaltsübersicht etc., aber auch ausführliche Nachweise der verwendeten Literatur, ein ebenso ausführlicher Lebenslauf Evelyns samt bisheriger Veröffentlichungen. »Ihrem Promotionsvorhaben sehen wir erwartungsvoll entgegen. Mit herzlichen Grüßen« und so weiter.
Sieh an, Knödelchen hatte sich also um ein Stipendium beworben und benötigte dazu eine Stellungnahme der Butenschöns. Einen wissenschaftlichen Persilschein sozusagen, wie passend. Was aus der Bewerbung geworden war, fand ich auf die Schnelle nicht heraus. Frau Butenschöns Schreiben datierte vom vorletzten Jahr; die Korrespondenz war entweder nicht fortgeführt oder gelöscht worden.
Wieder die Kontrolle am Fenster: alles ruhig. Ich nahm mir Koschaks Nachrichten an Evelyn vor. Was ich ihnen auf die Schnelle entnahm, stimmte mit den Angaben der beiden überein. Die erste Kontaktaufnahme hatte wohl telefonisch stattgefunden; in der ältesten Mail sprach Koschak bereits ohne jede Erläuterung von »den« Butenschön-Dokumenten. Dann drehte sich alles um das weitere Vorgehen: wie man die Echtheit der Akten prüfen könne, was der Verkäufer vorzulegen habe, in welchem zeitlichen Rahmen all dies erfolgen solle. Großes Thema dabei: das liebe Geld. Der Russe verlangte laut Koschak ursprünglich einen hohen fünfstelligen Eurobetrag, von dem er nur allmählich abrückte. Also mussten Mäuse her, die Deininger hatte nichts, der Journalist noch weniger. Über Kumpel in diversen Redaktionen kratzte Koschak schließlich ein bisschen was zusammen; woher Evelyns Beitrag stammte, war nicht ersichtlich.
»Der R. hat seinen Vorschuss«, schrieb Koschak in seiner letzten Mail von Ende Oktober. »Es kann also losgehen.«
Ich stürzte zum Fenster. Ja, Knödelchen saß noch auf ihrer Bank. Aber sie war nicht mehr allein. Der durchtrainierte Institutsleiter saß neben ihr und kümmerte sich um seine Mitarbeiterin. Wären alle Professoren so um ihre Doktorandinnen besorgt, gäbe es bestimmt weniger Studentenproteste. Oder noch wesentlich mehr? Jedenfalls hatte Evelyn den Kopf auf seine Schulter gelegt, und Romuald Gärtner streichelte ihr übers blonde Haar.
Einen Moment lang stand ich da, in den Anblick der stillen Szene vertieft, die etwas Rührendes hatte. Dann ging ich zum Laptop zurück, um sämtliche Mails von Prof.
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