Butenschön
in Heidelberg gewesen war. Das musste man sich mal vorstellen: niemals in Heidelberg! Dabei war doch schon die ganze Welt hier gewesen, selbst die Chinesen kamen neuerdings und die Inder und wer sich noch alles die exotischen Nasen an den Busfenstern plattdrückte. Heidelberg, oh!, Old Bridge, oh!, castle, market place, Hotel Ritter, oh, oh! – und schwupps, waren sie in Neuschwanstein oder an der Loreley. Aber die Australier, die hatten natürlich den allerweitesten Weg, einmal um den Globus herum, darauf musste man, ob nun Verwandtschaft oder nicht, einen trinken. Denn wer noch nie Heidelberg, der auch noch nie … was? Richtig, Heidelberger Bier. Noch nie! Dem konnte abgeholfen werden.
»Prost, Max!«, seufzte Herbert und ließ unsere Flaschen klirren.
Sein Cousin streckte mir eine behaarte Pranke hin. »Hi, schön, Sie zu kennenlernen.« Er hatte einen allerliebsten Schafschererakzent und eine blond umwucherte, sonnenverbrannte Halbglatze. Schien ein gutes Stück jünger zu sein als Herbert. Leander saß natürlich auch am Tisch, dazu eine Handvoll flüchtiger Bekannter, die auf Lokalrunden zu später Stunde hofften.
»Der hier«, stellte mich Kurt dem Aussie vor: »Großer Detektiv, großer Dichter. Das Beste, was es derzeit auf dem Markt gibt.«
»Und große Verwunderung, richtig?«
»Verwunderung?«, fragte Herbert, selbige im Blick.
»Ja, Verwunderung. Hier«, der Cousin zeigte auf meine Schläfe.
»Ach so, Verwundung meinst du. Ja, da kennt er nichts, der Max. Immer mittendrin.«
»Große Verwundung«, nickte ich. »Deshalb großer Durst. Cheers!«
Und so ging es weiter, Flasche für Flasche. Bis halb zehn hatte ich mein Vorhaben, den Pegelstand der anderen zu erreichen, in die Tat umgesetzt. Herberts Cousin war aber auch ein Prachtkerl. Er quatschte und lachte in einem fort, ganz anders als sein melancholischer Vetter, und wenn er weder quatschte noch lachte, trank er. Auf Heidelberg und seine lustigen Einwohner! Er hatte sich so darauf gefreut, endlich die berühmteste Kneipe der Stadt zu kennenlernen.
»Kennenzulernen«, verbesserte ich. »Aber macht nix. Deutsche Sprache ist wirklich nur was für Akademiker.«
Weil niemand abräumte, stand unser Tisch um zehn Uhr gerammelt voll mit leeren Flaschen. Das ist das berühmte Englische-Jäger-Paradox: Flasche leer, Tisch voll. Ungewöhnlich nur, dass es sich so früh ereignete. Die Bedienung musste anrücken und alles einsammeln. Während sie das Leergut in Kästen räumte, bekam sie auch noch unsere Kommentare ab. Herbert schlug vor, an einen anderen Tisch zu wechseln, der da sei ja vollgetrunken. Was nicht mit volltrunken zu verwechseln sei, aber irgendwie aufs Gleiche hinauslaufe. Kurt monierte die heutige Tischgröße; früher habe man so viel trinken können, wie man wolle, es sei immer noch ein Eckchen frei geblieben. Die verlebte Dame sagte Ja und nickte und dachte sich ihren Teil; helfen tat ihr keiner von uns Deppen.
Es hätte also ein stimmungsvoller, grundharmonischer Abend werden können, wenn sich nicht kurz darauf die Kneipentür geöffnet hätte, um einen neuen Gast einzulassen. »Neu« ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen: Der Mann war noch nie hier gewesen. Obwohl er nicht aus Australien stammte.
Da ich mit dem Rücken zur Tür saß, entging mir seine Ankunft. Erst als sich Tischfußball-Kurts Miene verfinsterte, drehte ich mich um. »Was will denn der Lackaffe hier?«, belferte Kurt.
Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Deininger! In seinem lächerlichen Nadelstreifenbankeraufzug, das Gesicht von der Abendkühle gerötet. Zwischen seinen Wangengrübchen klemmte ein leutseliges Grinsen, das noch breiter wurde, als er mich sah.
»Ich bin nicht da«, murmelte ich und sank auf meinem Stuhl zusammen. Die gesamte Kneipe hielt Maulaffen feil. Ein Alien hätte nicht mehr Bestürzung im Englischen Jäger hervorrufen können. Genau genommen war Deininger ein Alien: Bewohner eines fremden Planeten, in dem Krawattenzwang herrschte und Lächelpflicht.
Tischfußball-Kurt lächelte nicht, sondern knurrte hofhundmäßig: »Der soll sich vom Acker machen, aber dalli! Sonst zeige ich ihm, wo der Hammer hängt.«
»Schuster, bleib bei deinen Leisten«, sekundierte Herbert.
»Falscher Baustelle, was?«, fasste sein Cousin den Handwerkerdialog zusammen.
Aber es half nichts, Deininger war fest entschlossen, mir die größte Peinlichkeit seit Jahren zu bereiten. Freudestrahlend kam er auf uns zu, zwängte sein
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