Byrne & Balzano 1: Crucifix
Arrabiatas mussten private Krankenwagen rufen. Lilys Winken hatte eine doppelte Bedeutung. Erstens bedeutete es guten Morgen und zweitens, dass es Carmine gut ging. Zumindest bis nächste Woche.
Als Jessica in Richtung Cottman Avenue fuhr, dachte sie an den dummen Streit, den sie vorhin mit Vincent gehabt hatte, und dass eine einfache Antwort auf seine erste Frage die Diskussion sofort beendet hätte. Gestern Abend hatte sie mit einem alten Freund der Familie, Davey Pizzino, der mit seinen eins sechzig ziemlich klein geraten war, eine Sitzung des katholischen Food Drive besucht. Es war ein jährliches Treffen, an dem Jessica seit ihrer frühen Jugend teilnahm, und hatte mit einem Date nicht das Geringste zu tun. Aber das brauchte Vincent nicht zu wissen. Davey Pizzino errötete schon bei der Fernsehwerbung für Duschgel. Er war der einzige unberührte achtunddreißigjährige Mann östlich der Alleghenies. Und er hatte ihr Haus um halb zehn verlassen.
Aber die Tatsache, dass Vincent ihr vermutlich nachspioniert hatte, widerte sie an.
Sollte er doch denken, was er wollte.
Auf dem Weg in die Stadtmitte sah Jessica einmal mehr, wie das Stadtbild sich veränderte. Ihr fiel keine andere Stadt ein, die eine so große Diskrepanz zwischen Elend und Glanz aufwies. Keine andere Stadt hing mit mehr Stolz an der Vergangenheit und schaute begieriger in die Zukunft.
Sie sah zwei beherzte Jogger auf der Frankford, und die Schleusentore öffneten sich weit. Ein Meer von Erinnerungen und Gefühlen überschwemmte sie.
Jessica hatte angefangen, mit ihrem Bruder gemeinsam zu laufen, als er siebzehn gewesen war. Sie war damals eine schlaksige Dreizehnjährige, eine zerbrechliche Konstruktion aus spitzen Ellbogen, knochigen Schultern und vorstehenden Kniescheiben. Im ersten Jahr hatte sie nicht die geringste Chance gegen ihren Bruder. Michael Giovanni, ein sportlicher, muskulöser Typ, war über eins achtzig groß und brachte neunzig Kilo auf die Waage.
Weder die Sommerhitze noch der Frühlingsregen oder der Schnee im Winter hielten sie davon ab, durch die Straßen Süd-Philadelphias zu laufen. Michael immer ein paar Schritte voraus und Jessica stets bemüht, mit ihm Schritt zu halten, immer in stiller Bewunderung für seinen anmutigen Laufstil und sein schnelles Tempo. Einmal besiegte sie ihn und kam kurz vor ihm an der Treppe von St. Paul’s an. Es war an ihrem vierzehnten Geburtstag gewesen, und Michael hatte seine Niederlage überhaupt nicht in Zweifel gezogen. Jessica wusste, dass er sie hatte gewinnen lassen.
Die Mutter von Jessica und Michael starb an Brustkrebs, als Jessica gerade mal fünf Jahre alt war. Von diesem Tag an war Michael immer für sie da und tröstete sie über jedes aufgeschürfte Knie, jeden Liebeskummer und alle Schikanen der Nachbarsjungen hinweg.
Sie war fünfzehn, als Michael zu den Marines ging, womit er in die Fußstapfen ihres Vaters trat. Sie erinnerte sich, wie stolz sie alle gewesen waren, als er zum ersten Mal in seiner Ausgehuniform nach Hause kam. Jessicas Freundinnen waren alle schrecklich verliebt in Michael Giovanni, in seine samtenen Augen und sein bezauberndes Lächeln, seine Vertrauen einflößende Art alten Menschen und Kindern gegenüber. Jeder wusste, dass er nach seiner Ausbildung erneut in die Fußstapfen seines Vaters treten und zur Polizei gehen würde.
Jessica war fünfzehn, als Michael, der bei den Elften Marines des Ersten Bataillons diente, in Kuwait getötet wurde.
Ihr Vater, der bei der Polizei drei Mal ausgezeichnet worden war und noch immer die Sozialversicherungskarte seiner verstorbenen Frau in der Brusttasche trug, verschloss sein Herz an jenem Tag vollkommen. Dieses Terrain betrat er nun nur noch in Gesellschaft seiner Enkeltochter. Obwohl Peter Giovanni von kleiner Statur war, fühlte er sich in Gesellschaft seines Sohnes unschlagbar.
Jessica hatte am Einführungskurs für Jurastudenten teilgenommen und beabsichtigt, anschließend die juristische Fakultät zu besuchen, doch in jener Nacht, als sie die Nachricht von Michaels Tod erhielten, wusste sie, dass sie zur Polizei gehen würde.
Und nun, da sie eine ganz neue Karriere in einer der meistgeachteten Mordkommissionen des Landes begann, sah es so aus, als wäre die juristische Fakultät ein Traum, der ins Reich der Fantasie verbannt worden war.
Vielleicht eines Tages.
Vielleicht.
Als Jessica auf den Parkplatz des Roundhouse fuhr, wurde ihr bewusst, dass sie sich an nichts mehr erinnerte. An gar
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