Byrne & Balzano 1: Crucifix
nichts. Die ganze Paukerei über Verfahrensweisen und Beweissuche, die Jahre auf den Straßen – alles war wie weggeblasen.
Ist das Gebäude gewachsen? , fragte sie sich.
Als sie vor der Tür stand, sah sie ihr Spiegelbild auf dem Glas. Sie trug ein ziemlich teures Kostüm und ihre besten Slipper. Ein großer Unterschied zu den Jeans im Gammel-Look und den Sweatshirts, die sie als Studentin in Temple bevorzugt hatte, in diesen verrückten Jahren vor Vincent, vor Sophie, vor der Akademie, vor all diesen Dingen. Damals war sie völlig unbeschwert gewesen. Jetzt war ihr Leben vergleichbar mit einem Haus voller Sorgen, dessen undichtes Dach mit wackligen Schindeln gedeckt war.
Obwohl sie dieses Gebäude schon oft betreten hatte und den Weg zu den Aufzügen vermutlich blind finden würde, schien alles fremd zu sein, als sähe sie es zum ersten Mal. Der Anblick, die Geräusche, die Gerüche – alles vermischte sich mit dem verrückten Zirkus dieser kleinen Ecke des Rechtssystems Philadelphias.
Es war Michaels hübsches Gesicht, das Jessica sah, als sie den Türgriff umklammerte, ein Bild, das sie in den nächsten Wochen immer wieder vor Augen haben würde, als der neue Job ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte.
Jessica öffnete die Tür, betrat das Gebäude und dachte:
Pass auf mich auf, großer Bruder.
Pass auf mich auf.
5.
Montag, 7.55 Uhr
D ie Mordkommission des Philadelphia Police Department war im Erdgeschoss des PAD untergebracht, des Police Administration Building. Dieses Verwaltungsgebäude der Polizei, ein zweistöckiger Bau an der Ecke Achte und Race Street, wurde wegen seiner runden Form meistens Roundhouse genannt. Sogar die Aufzüge waren rund. Die Kriminalbeamten wiesen gern darauf hin, dass das Gebäude aus der Luft wie ein Paar Handschellen aussah. Wenn jemand in Philadelphia County auf mysteriöse Weise ums Leben kam, ging hier der Anruf ein.
Zu den fünfundsechzig Detectives der Abteilung gehörten nur eine Hand voll Frauen – ein Zustand, den die höheren Chargen unbedingt ändern wollten.
Dabei wusste jeder, dass es heutzutage in einer so heiklen Behörde wie dem PPD nicht unbedingt eine Person war, die befördert wurde, sondern dass oft eine Statistik oder demographische Erhebungen den Ausschlag gaben.
Jessica wusste das. Aber sie wusste auch, dass ihre Karriere auf der Straße außergewöhnlich war und sie den Job bei der Mordkommission verdient hatte, auch wenn sie ihn ein paar Jahre früher antrat als andere. Gewöhnlich landete man dort erst nach fast zehn Jahren Dienst in anderen Dezernaten. Jessica hatte einen Abschluss in Strafrecht erworben. Sie war eine außergewöhnlich fähige Streifenbeamtin und zwei Mal für außergewöhnliche Leistungen ausgezeichnet worden. Wenn sie Kollegen oder Vorgesetzten der alten Schule beweisen musste, was in ihr steckte – kein Problem. Sie war bereit. Jessica war nie vor einem Kampf zurückgewichen, und sie würde nicht ausgerechnet heute damit anfangen.
Einer der drei Vorgesetzten der Mordkommission war Sergeant Dwight Buchanan. Wenn die Detectives für die Toten eintraten, so war es Ike Buchanan, der für diejenigen eintrat, die für die Toten eintraten.
Als Jessica das Großraumbüro betrat, winkte Ike Buchanan sie zu sich. Die erste Tagesschicht begann um acht; deshalb war das Büro um diese Zeit voll besetzt. Die meisten Beamten von der Nachtschicht, die von Mitternacht bis acht Uhr früh dauerte, waren noch anwesend, was nicht ungewöhnlich war. Nun drängten sich die Kriminalbeamten in dem ohnehin beengten, halbrunden Raum. Jessica nickte den Detectives an den Schreibtischen zu – alles Männer, die alle an der Strippe hingen und ihren Gruß mit einem flüchtigen, kühlen Nicken beantworteten.
Sie gehörte noch nicht zum Club.
»Kommen Sie rein«, sagte Buchanan.
Jessica drückte die ihr dargebotene Hand, folgte Buchanan und bemerkte, dass er leicht hinkte. Ike Buchanan hatte sich in den Bandenkriegen in Philadelphia in den späten Siebzigern mehrere Kugeln eingefangen, und den Gerüchten zufolge hatte er ein halbes Dutzend Operationen und ein Jahr schmerzhafter Reha ertragen müssen, ehe er in den Job zurückkehren konnte. Dieser Mann war unerschütterlich. Jessica hatte ihn mehrmals mit einem Stock gesehen. Heute nicht. Stolz und Mut waren an diesem Ort mehr als Luxus. Manchmal waren sie der Klebstoff, der die Befehlskette zusammenhielt.
Ike Buchanan ging auf die sechzig zu. Er war ein hagerer, zäher
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