Byrne & Balzano 1: Crucifix
Bursche mit vollem, schlohweißem Haar und buschigen weißen Augenbrauen. Die harten Winter Philadelphias, denen er seit sechs Jahrzehnten ausgesetzt war, hatten Spuren auf seinem geröteten, vernarbten Gesicht hinterlassen. Und wenn die anderen Gerüchte stimmten, hatte er dem Wild Turkey seinerzeit ziemlich heftig zugesprochen.
Jessica betrat das kleine Büro und nahm Platz.
»Wir sollten uns nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten.« Buchanan lehnte die Tür an und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Jessica sah, dass er versuchte, sein Hinken zu überspielen. Er war zwar ein ausgezeichneter Cop, aber er war auch ein Mann.
»Ja, Sir.«
»Woher stammen Sie?«
»Aufgewachsen in Süd-Philadelphia«, sagte Jessica, die wusste, dass Buchanan ihren Lebenslauf natürlich schon kannte und seine Fragen reine Formalität waren.
»In der Sechsten und Catharine.«
»Schulen?«
»St. Paul’s, anschließend Nazarene Academy. Ich habe in Temple studiert.«
»Sie haben Ihr Studium in Temple nach drei Jahren abgeschlossen?«
Dreieinhalb , dachte Jessica, aber wer zählte hier? »Ja, Sir. Strafrecht.«
»Beeindruckend.«
»Danke, Sir.«
»Sie haben im dritten Distrikt gearbeitet?«, fragte er.
»Ja. Vier Jahre.«
»Wie hat es Ihnen gefallen, für Danny O’Brien zu arbeiten?«
Was sollte sie darauf antworten? Dass ihr ehemaliger Boss ein arrogantes, frauenfeindliches, geistloses Arschloch war? »Sergeant O’Brien ist ein guter Polizist. Ich habe viel von ihm gelernt.«
»Danny O’Brien ist ein bisschen rückständig«, sagte Buchanan.
»Wenn Sie es so sehen, Sir«, sagte Jessica und versuchte angestrengt, sich das Lachen zu verkneifen.
»Dann verraten Sie mir mal, warum Sie wirklich hier sind«, forderte Buchanan sie auf
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte Jessica, um Zeit zu gewinnen.
Buchanan schaute aus dem Fenster. »Ich bin seit siebenunddreißig Jahren Polizist. Kaum zu glauben, aber wahr. Ich habe viele gute und viele schlechte Menschen kennen gelernt. Auf beiden Seiten des Gesetzes. Es gab eine Zeit, da war ich wie Sie. Bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, die Schuldigen zu bestrafen und die Unschuldigen zu rächen.« Buchanan drehte sich zu ihr um. »Warum sind Sie hier?«
Ganz ruhig bleiben, Jess , dachte sie. Er will dir auf den Zahn fühlen . »Ich bin hier, weil … weil ich glaube, dass ich etwas verändern kann.«
Buchanan musterte sie einen Moment. Unmöglich, seine Gedanken zu lesen. »Als ich in Ihrem Alter war, dachte ich das auch.«
Jessica hatte das Gefühl, einen gewissen Unterton herausgehört zu haben. Ob herablassend, gönnerhaft oder väterlich, vermochte sie nicht zu sagen. Die Italienerin in ihr kam durch. Die South-Philly-Mentalität. »Dürfte ich Sie fragen, Sir, ob Sie etwas verändert haben?«
Buchanan lächelte. Das war ein gutes Zeichen. »Ich bin noch nicht in den Ruhestand getreten.«
Gute Antwort , dachte Jessica.
»Wie geht es Ihrem Vater?«, fragte Buchanan unvermittelt. »Genießt er seinen Ruhestand?«
Die Wahrheit sah so aus, dass er die Wände hochging. Als Jessica das letzte Mal vor seinem Haus gehalten hatte, stand er mit einem Paket Roma-Tomatensamen in der Hand vor der Terrassentür und schaute auf den winzigen Hof. »Sehr, Sir.«
»Er ist ein guter Mann. Er war ein großartiger Polizist.«
»Danke. Ich werde es ihm sagen. Er wird sich freuen.«
»Dass Peter Giovanni Ihr Vater ist, wird Ihnen weder helfen noch schaden. Falls es je ein Problem sein sollte, kommen Sie zu mir.«
Niemals , dachte Jessica. »Das werde ich. Vielen Dank.«
Buchanan stand auf, beugte sich vor und musterte sie mit seinem starren Blick. »Dieser Job hat schon viele Herzen gebrochen, Detective. Ich hoffe, Ihres gehört nicht dazu.«
»Danke, Sir.«
Buchanan schaute über ihre Schulter in das Großraumbüro. »Wo wir gerade von Herzensbrechern sprechen …«
Jessica folgte seinem Blick, der auf einem kräftigen Mann haften blieb, der neben der Zentrale stand und ein Fax las. Sie standen auf und verließen Buchanans Büro.
Als sie auf den Mann zugingen, musterte Jessica ihn. Der Detective war Anfang vierzig, fast eins neunzig und brachte mehr als hundert Kilo auf die Waage. Er hatte hellbraunes Haar, grüne Augen, große Hände und eine dicke, glänzende Narbe über dem rechten Auge. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass er Detective bei der Mordkommission war, hätte sie es erraten. Sein Äußeres entsprach genau dem Klischee: guter Anzug, billige
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