Byrne & Balzano 1: Crucifix
Straßenseiten in Zweierreihen. In diesem Teil der Stadt rief man nicht die Polizei oder klopfte an die Türen der Hausbewohner, wenn die Straße versperrt war. Man drückte auch nicht auf die Hupe. Man drehte einfach und suchte sich anderswo einen Parkplatz.
Die Schutztür des heruntergekommenen Reihenhauses in Point Breeze war geöffnet. Drinnen brannten alle Lichter. Byrne stand auf der anderen Straßenseite unter dem ramponierten Vordach einer seit langem geschlossenen Bäckerei. Durch das Erkerfenster auf der anderen Straßenseite konnte er die drei Bilder an der Wand über dem modernen, erdbeerfarbenen Samtsofa sehen. Martin Luther King, Jesus und Muhammad Ali.
Genau vor ihm, in einem verrosteten Pontiac, saß der Jugendliche allein auf dem Rücksitz. Er bemerkte Byrne nicht, rauchte einen Joint und schaukelte zur Musik aus seinen Kopfhörern sachte hin und her. Ein paar Minuten später drückte er den Joint aus, öffnete die Tür und stieg aus.
Er reckte sich, zog die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf und glättete seine Baggy-Hose.
»Hi«, sagte Byrne. Er spürte in beiden Schläfen ein dumpfes, rhythmisches Pochen. Es fühlte sich an, als wäre die schlimmste Migräne nur einen Steinwurf entfernt.
Der Jugendliche drehte sich erstaunt um, erschrak aber nicht. Er war fünfzehn, sechzehn Jahre alt, groß und hager, und hatte einen Körper, der ihm bei Rangeleien auf dem Schulhof sicher von Nutzen sein konnte, mehr aber auch nicht. Er trug die komplette Sean-John-Uniform – Jeans, gepolsterte Lederjacke, Kapuzenshirt.
Der Jugendliche musterte Byrne und versuchte, die Gefahr einzuschätzen. Doch von Byrne schien keine Gefahr auszugehen.
»Hi«, sagte der Junge schließlich.
»Kennst du Marius?«, fragte Byrne.
Der Junge musterte ihn erneut.
Byrne war viel zu kräftig, um sich mit ihm anzulegen.
»MB war einer von uns«, sagte der Junge. Er zeigte Byrne das JBM-Logo.
Byrne nickte. Noch war nicht endgültig entschieden, welchen Weg der Junge gehen würde, dachte er. In seinen blutunterlaufenen Augen schimmerte ein wenig Intelligenz. Doch Byrne hatte das Gefühl, dass der Junge zu eifrig bemüht war, die Erwartungen der Welt an ihn zu erfüllen.
Byrne griff langsam in seinen Mantel, so langsam, dass der Junge keine Angst bekam. Er zog den Umschlag heraus. Größe, Form und Gewicht des Umschlags ließen eindeutig auf dessen Inhalt schließen.
»Seine Mutter heißt Delilah Watts?«, fragte Byrne. Es war keine Frage, eher eine Feststellung.
Der Junge warf einen Blick auf das erleuchtete Erkerfenster des Reihenhauses. Eine dünne, dunkelhäutige Frau mit einer übergroßen Sonnenbrille und einer dunkelbraunen Perücke tupfte sich die Augen ab, als sie Trauergäste empfing. Sie war nicht älter als fünfunddreißig.
Der Junge drehte sich wieder zu Byrne um. »Ja.«
Byrne spielte mit dem Gummiband, das um den dicken Umschlag gewunden war. Er hatte das Geld nicht gezählt. Als er es Gideon Pratt in jener Nacht abgenommen hatte, bestand kein Grund zu der Annahme, dass es ein Cent weniger war als die vereinbarten fünftausend Dollar. Es bestand kein Grund, das Geld jetzt zu zählen.
»Das ist für Mrs Watts«, sagte Byrne. Er hielt dem Blick des Jungen ein paar Sekunden stand, einem Blick, dessen sie sich beide schon häufig bedient hatten und der nicht beschönigt und nicht erklärt zu werden brauchte.
Der Junge streckte den Arm aus und nahm den Umschlag vorsichtig entgegen. »Sie wird wissen wollen, von wem das ist«, sagte er.
Byrne nickte. Der Junge begriff dass er keine Antwort bekommen würde.
Er stopfte den Umschlag in seine Hosentasche. Byrne beobachtete ihn, als er über die Straße schlenderte, das Haus betrat und ein paar junge Männer umarmte, die vor der Tür Wache standen. Er schaute durchs Fenster und sah, dass der Junge kurz warten musste, bis er zu Mrs Watts vordringen konnte. Byrne hörte die Klänge von Al Greens You Brought the Sunshine .
Byrne fragte sich, wie oft diese Szene in dieser Nacht im ganzen Land aufgeführt wurde. Zu junge Mütter, die in zu warmen Wohnzimmern saßen und die Totenwache bei ihrem Kind hielten, das brutaler Gewalt zum Opfer gefallen war.
Marius Green mochte in seinem kurzen Leben eine Menge Dummheiten gemacht und viel Kummer und Schmerz bereitet haben. Doch es gab nur einen einzigen Grund, warum er in jener Nacht in dieser Gasse war: Es ging um eine Abrechnung, mit der er absolut nichts zu tun hatte.
Marius Green war tot. Der Mann, der ihn
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