Byrne & Balzano 1: Crucifix
kaltblütig abgeknallt hatte, war es auch. War das Gerechtigkeit? Wahrscheinlich nicht. Aber es bestand kein Zweifel, dass alles an dem Tag begann, als Deirdre Pettigrew einen brutalen Scheißkerl im Fairmount Park getroffen hatte, einem Tag, an dessen Ende eine andere junge Mutter mit nassen, zerknitterten Taschentüchern in der Hand im Wohnzimmer saß, in dem Freunde und Angehörige ihr Beileid bekundeten.
Es gibt keine Lösung, nur Zwischenlösungen , dachte Byrne. Er glaubte nicht ans Karma. Er glaubte an Aktion und Reaktion.
Byrne beobachtete Delilah Watts, die den Umschlag öffnete. Als sie sich vom ersten Schock erholt hatte, presste sie eine Hand auf ihr Herz. Dann fasste sie sich wieder und schaute dann aus dem Fenster genau auf Byrne, genau in Kevin Byrnes Seele. Er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte, dass sie nur das schwarze Spiegelbild der Nacht sah und die vom Regen verschleierte Widerspiegelung ihres eigenes Schmerzes.
Kevin Byrne neigte den Kopf, klappte den Kragen hoch und trat hinaus in den Regen.
66.
Freitag, 20.25 Uhr
A ls Jessica nach Hause fuhr, wurde im Wetterbericht ein starkes Unwetter vorhergesagt. Sturm, Blitz, Flutwarnungen. Teile des Roosevelt Boulevards waren bereits überschwemmt.
Jessica dachte an den Abend vor vielen Jahren, als sie Patrick kennen gelernt hatte. Sie hatte ihn in der Notambulanz bei der Arbeit beobachtet – einen Mann voller Anmut und Selbstvertrauen, der das Geschick besaß, die Menschen zu trösten, die zu ihm kamen, weil sie Hilfe brauchten.
Menschen vertrauten seinen Fähigkeiten, ihnen die Schmerzen zu nehmen. Allein schon sein sympathisches Aussehen war Vertrauen einflößend. Jessica versuchte, sich ein objektives Urteil zu bilden. Was wusste sie eigentlich über ihn? Brachte sie es fertig, ebenso negativ über ihn zu denken, wie sie über Brian Parkhurst gedacht hatte?
Nein, das konnte sie nicht.
Doch je länger sie darüber nachdachte, desto möglicher schien es ihr zu sein, dass er es gewesen war. Es sprach einiges dafür. Er war Arzt, und er hatte für die Tatzeiten keine Alibis. Seine jüngere Schwester war einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Er war Katholik, und er hatte alle fünf Mädchen behandelt. Er kannte ihre Namen, ihre Adressen, ihre Krankengeschichten.
Sie hatte sich das Digitalfoto von Nicole Taylors Hand angesehen. Hatte Nicole möglicherweise vorgehabt, die Buchstaben FAR und nicht PAR in ihre Hand zu ritzen?
Es war möglich.
Das musste Jessica trotz ihrer Zweifel schließlich zugeben. Wenn sie Patrick nicht gekannt hätte, hätte sie die Mordanklage auf die eine unumstößliche Tatsache gestützt:
Er kannte jedes der fünf Mädchen.
67.
Freitag, 20.55 Uhr
B yrne stand auf der Intensivstation und betrachtete Lauren Semanski. Die Notärzte hatten ihm mitgeteilt, dass Lauren mit Drogen voll gepumpt war und das Midazolam, das der Entführer ihr gespritzt hatte, daher nicht die gewünschte Wirkung zeigen konnte.
Obwohl bisher noch niemand mit Lauren sprechen konnte, stand fest, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem fahrenden Fahrzeug gesprungen war. Sie war mit Drogen voll gepumpt und hatte sich zahlreiche schwere Verletzungen zugezogen, doch keine von ihnen war lebensbedrohend.
Byrne setzte sich ans Bett.
Er wusste, dass Patrick Farrell ein Freund von Jessica war. Er vermutete, dass es nicht nur eine rein freundschaftliche Beziehung war, doch er würde warten, bis Jessica von sich aus mit ihm darüber sprach.
Bisher waren sie vielen falschen Spuren gefolgt und immer wieder in Sackgassen gelandet. Er war keinesfalls sicher, dass Patrick Farrell ihr Mann war. Als er den Arzt vor dem Rodin-Museum kennen gelernt hatte, hatte seine innere Stimme nicht reagiert.
Aber das schien im Augenblick nichts zu bedeuten. Vielleicht könnte er sogar Ted Bundy die Hand schütteln, ohne dass sein »Gefühl« reagierte. Alles wies auf Patrick Farrell hin. Es waren schon häufig Haftbefehle in Fällen ausgestellt worden, in denen die Beweislast weniger erdrückend war.
Byrne umklammerte Laurens Hand – und schloss die Lider. Heiß und mörderisch flackerte der Schmerz über seinen Augen auf. Als die Bilder durch seinen Kopf schossen, stockte ihm der Atem. Und die Tür am Ende seines Geistes öffnete sich weit…
68.
Freitag, 20.55 Uhr
G elehrte glauben, dass am Tag von Christi Tod ein Sturm über Golgatha wütete, dass der Himmel
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