Byrne & Balzano 1: Crucifix
den Tessa Wells genommen hatte, als sie am Morgen zur Bushaltestelle gegangen war. Einige Hausbewohner reagierten nicht auf ihr Klopfen. Trotzdem sprachen sie mit einem Dutzend Personen, die die katholischen Schülerinnen kannten, die an der Ecke in den Bus stiegen. Niemand erinnerte sich an ungewöhnliche Vorfälle am Freitag oder an einem anderen Tag.
Es war fast so, als wären Tessa und die Erinnerung an sie aus der Stadt ausgelöscht worden.
Dann hatten sie einen kleinen Erfolg. Wie so oft, erzielten sie ihn beim letzten Versuch. Sie standen vor einem baufälligen Reihenhaus mit olivgrüner Markise und verschmutztem Messingtürklopfer in der Form eines Elchkopfes. Das Haus war weniger als einen halben Block von der Stelle entfernt, wo Tessa Wells immer in den Bus gestiegen war.
Byrne ging auf die Tür zu. Jessica blieb zurück. Nachdem der Detective ein halbes Dutzend Mal geklopft hatte, wollten sie gerade aufgeben, als die Tür einen Spalt geöffnet wurde.
»Ich kaufe nichts«, sagte die schwache Stimme eines Mannes.
»Und ich verkaufe nichts.« Byrne zeigte ihm seine Dienstmarke.
»Was wollen Sie?«
»Zuerst mal wäre es nett, wenn Sie die Tür aufmachen würden«, erwiderte Byrne so höflich, wie es ihm nach der fünfzigsten Befragung an diesem Tag möglich war.
Der Mann schloss die Tür, zog die Kette heraus und öffnete die Tür weit. Er war um die siebzig und trug eine karierte Pyjamahose sowie eine malvenfarbene Smokingjacke, die irgendwann zu Zeiten Eisenhowers genäht worden sein musste. An den Füßen trug er aufgeschnürte Broughams und keine Socken. Sein Name war Charles Noone.
»Wir befragen alle Leute hier in der Gegend, Sir. Haben Sie dieses Mädchen zufällig am Freitag gesehen?«
Byrne zeigte ihm das Foto von Tessa Wells, eine Kopie des Highschool-Fotos. Der Mann fischte eine einfache Brille, ein Kassengestell, aus der Jackentasche und betrachtete intensiv das Bild, wobei er die Brille hoch und runter und vor und zurück schob. Jessica sah das Preisschild noch auf dem unteren Teil des rechten Brillenglases kleben.
»Ja. Die hab ich gesehen«, sagte Noone.
»Wo?«
»Sie ging wie jeden Tag zu der Ecke dort.«
»Wo haben Sie das Mädchen gesehen?«
Der Mann zeigte auf den Bürgersteig und bewegte seinen knochigen Zeigefinger von links nach rechts. »Sie kam wie immer die Straße rauf. Ich erinnere mich an sie, weil sie immer aussah, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz woanders.«
»Woanders?«
»Ja. In ihrer eigenen Welt. Mit nachdenklichem Blick.«
»Woran erinnern Sie sich sonst noch?«, fragte Byrne.
»Sie blieb einen Moment vor dem Fenster stehen. Genau dort, wo die junge Frau nun steht.« Noone zeigte auf Jessica.
»Wie lange stand sie dort?«
»Ich hab die Zeit nicht gestoppt.«
Byrne, dessen Geduld einen Tiefpunkt erreicht hatte, holte tief Luft und atmete langsam aus. »Ungefähr.«
»Weiß ich nicht«, sagte Noone. Er schaute mit geschlossenen Augen an die Decke. Jessica sah, dass seine Finger sich bewegten. Es sah so aus, als würde er zählen. Sie fragte sich, ob er die Schuhe ausziehen würde, falls die Zahl zehn überstieg. Dann wandte er sich wieder Byrne zu. »Vielleicht zwanzig Sekunden.«
»Was hat sie gemacht?«
»Was?«
»Was sie gemacht hat, als sie vor dem Haus stand.«
»Sie hat nichts gemacht.«
»Sie stand einfach nur da?«
»Nee, ihr Blick wanderte die Straße hinauf und blieb dann auf irgendwas haften … nee, eigentlich guckte sie nicht die Straße hinauf, eher in die Einfahrt neben dem Haus.« Charles Noone zeigte auf die Einfahrt rechter Hand, die sein Haus von dem Gasthaus an der Ecke trennte.
»Sie hat nur geguckt?«
»Ja. Als hätte sie etwas Interessantes gesehen. Als hätte sie jemanden gesehen, den sie kannte. Sie errötete. Sie wissen ja, wie junge Mädchen sind.«
»Nicht wirklich«, sagte Byrne. »Warum erklären Sie es mir nicht einfach?«
Jetzt veränderte sich die Körpersprache, erreichte jene kleine Wende, die den beteiligten Parteien sagte, dass eine neue Gesprächsphase eingeläutet wurde. Noone trat wenige Zentimeter zurück, band die Schärpe seiner Smokingjacke etwas fester und versteifte sich ein wenig. Byrne verlagerte sein Gewicht auf den rechten Fuß und starrte an dem Mann vorbei in das dunkle Wohnzimmer.
»Ich hab nur gesagt, dass sie kurz errötete.«
Byrne hielt Noones Blick stand, bis der Mann sich abwandte. Jessica kannte Kevin Byrne erst ein paar Stunden, aber sie hatte schon das kalte grüne Feuer in
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