Byrne & Balzano 3: Lunatic
Einundachtzig Menschen drängten sich in der kleinen, unscheinbaren Kirche in der Allegheny Avenue. Es roch nach Blumenparfum, Tabak und billigem Fusel.
Der Priester trat zur Melodie Dies ist der Tag, den der Herr gemacht vor die Gemeinde. Sein Diakon folgte ihm. Wilma Goodloes kräftige erste Stimme war ein Segen des Himmels für den fünfköpfigen Chor.
Als Pastor Hannah erschien, erhob die Gemeinde sich. Nach einem kurzen Moment trat der Pastor hinter die Kanzel und hob die Hand. Er wartete, bis die Musik verklungen war, seine Schäfchen Platz genommen hatten und der Geist ihn erfüllte. Das geschah immer. Pastor Hannah begann langsam und baute seine Botschaft nach und nach so auf, wie ein Architekt ein Haus errichtet – die Sünde war die Ausschachtung der Seele, die Heilige Schrift war das Fundament des Lebens und Glaubens, getragen von den festen Mauern der Lobpreisung und überdeckt vom krönenden Dach der Huldigung.
Nach zwanzig Minuten war es vollbracht.
»Aber irrt euch nicht. Es gibt viel Dunkelheit in der Welt«, sagte der Pastor.
»Dunkelheit«, wiederholte jemand.
»O ja«, fuhr der Pastor fort. »O ja. Es sind dunkle, schreckliche Zeiten.«
»Ja, so ist es!«
»Aber die Dunkelheit ist keine Dunkelheit für den Herrn.«
»Nein, ist sie nicht!«
»Gar keine Dunkelheit.«
»Gar keine!«
Der Pastor trat vor die Kanzel. Er faltete die Hände zum Gebet. Einige Gemeindemitglieder standen auf. »Aus dem Brief an die Epheser, fünftes Kapitel, Vers elf: ›Und habt nichts gemein mit den Werken der Finsternis, die keine Frucht tragen, sondern macht sie offenbar.‹«
»Ja, Herr!«
»Paulus sagt: ›Denn alles, was offenbar ist, wird vom Licht erleuchtet, und alles Erleuchtete ist Licht.‹«
»Es ist Licht!«
Als die Predigt beendet war, hatte die Gemeinde sich in eine Art religiösen Rausch gesteigert. Tamburine erklangen, Gesänge, Gebete, Schluchzen.
Pastor Roland Hannah und Diakon Charles Waite waren Feuer und Flamme. Heute wurde im Himmel Geschichte geschrieben, und die New-Page-Kirche der Göttlichen Flamme lieferte die Schlagzeile.
Der Pastor dachte über seine Gemeinde nach. Er dachte an Basil Spencer und daran, wie er von Spencers schrecklichen Taten erfahren hatte. Die Menschen erzählten ihrem Priester viele Dinge. Auch die Kinder. Pastor Hannah hatte aus dem Munde der Kinder viele Wahrheiten vernommen. Und er würde sich allen zuwenden. Wenn die Zeit gekommen war.
Doch es gab da eine Sache, die ihm seit mehr als zehn Jahren jede Lebensfreude raubte, die mit ihm erwachte, die ihn auf Schritt und Tritt begleitete, die mit ihm schlafen ging und mit ihm betete: Da draußen war ein Mann, der ihm seine Seele gestohlen hatte. Roland war ihm ganz nahe. Er spürte es. Bald würde er den Richtigen finden. Bis dahin würde er Gottes Werk tun, wie schon in der Vergangenheit.
Die Stimmen des Chores erhoben sich zur gemeinsamen Lobpreisung. Die Kraft und Inbrunst der Huldigung ließ die Dachsparren erbeben. An diesem Tag wird es in der Hölle zischen und krachen, dachte Roland Hannah.
O ja, das würde es.
Ein Tag, den der Herr geschaffen hatte.
12.
S t. Seraphim war ein hohes, schlankes Bauwerk in der Sechsten Straße in Nord-Philadelphia. Mit der cremefarbenen Stuckfassade, den hohen Türmchen und den goldenen Zwiebeltürmen war die 1897 erbaute Kirche ein imposantes Gebäude, eine der ältesten russisch-orthodoxen Kirchen in Philadelphia. Jessica, die im römisch-katholischen Glauben erzogen worden war, wusste nicht viel über die christlich-orthodoxen Religionen. Sie wusste, dass es Ähnlichkeiten in der Beichte und der Kommunion gab, aber das war auch schon so ziemlich alles.
Der Vorfall im Coffee Shop machte es erforderlich, dass Byrne sich einer Untersuchungskommission und einer Pressekonferenz stellte. Die Untersuchungskommission war zwingend vorgeschrieben, die Pressekonferenz nicht. Doch Jessica wusste, dass Byrne nicht kneifen würde. Er würde sich den Reportern mit glänzender Dienstmarke und polierten Schuhen präsentieren.
Offenbar waren die Familien des Opfers Laura Clarke und des Täters Anton Krotz der Meinung, dass die Polizei mit der schwierigen Situation anders hätte umgehen müssen. Für die Medien jedenfalls war es ein gefundenes Fressen. Jessica wäre gerne dabei gewesen, um Byrne moralisch zu unterstützen, aber sie hatte den Auftrag, die Ermittlungen weiterzuführen. Sie waren es Kristina Jakos schuldig, ihre Nachforschungen zügig voranzutreiben. Ihr Mörder
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