Byrne & Balzano 4: Septagon
Highschool-Direktor, der die Schüler in die Ferien verabschiedete.
Er parkte in der Nähe des Tacony Creek Parks auf einem kleinen Parkplatz an der Wyoming Avenue. Er wusste, sie würden beim ersten Tageslicht erscheinen. Einige verbrachten sogar die Nächte im Park.
Er schaute auf das Display seines Handys. Es war dunkel. Lilly würde anrufen. Er war ganz sicher. Dennoch musste er Vorkehrungen treffen, falls sie es nicht tat.
53.
J ESSICA SASS AUF der Veranda. Sämtliche Lichter im Haus brannten, und die Stereoanlage im Wohnzimmer beschallte die ganze Nachbarschaft mit den Go-Gos.
»Hallo, Partner!«, rief sie.
Oje, dachte Byrne. Sie ist sternhagelvoll. Die Go-Gos bewiesen es. »Hallo.«
»Hast du meine SMS bekommen? Das ist so cool . Ich liebe diese Technologie.«
»Alles in Ordnung?«
Jessica schwenkte eine Hand durch die Luft. »Schmerzfrei.«
»Das sehe ich. Ist mit deiner Familie alles klar?«
»Vincent und Sophie sind bei Vincents Vater. Ich hab vorhin noch mit ihnen telefoniert. Sie waren schwimmen. Sophie ist vom Einmeterbrett gesprungen. Zum ersten Mal.« Jessica bekam feuchte Augen. »Ich war nicht dabei.«
Zwischen ihren Füßen stand eine Flasche Bourbon. Sie war noch zu zwei Dritteln gefüllt. Von zwei Drinks konnte sie unmöglich so besoffen sein.
»Hier muss irgendwo noch eine leere Flasche rumliegen«, sagte Byrne.
Jessica zögerte einen Moment, ehe sie auf die Hecke links neben der Veranda zeigte. Eine leere Flasche Wild Turkey schimmerte im Mondlicht. Byrne hob sie auf und stellte sie auf die Veranda.
»Kennst du ... kennst du das, wenn die Leute sagen: ›Das Leben ist beschissen‹, und wenn dann immer sofort jemand darauf antwortet: ›Niemand hat je behauptet, dass das Leben gerecht ist.‹ Kennst du das?«
»Ja«, sagte Byrne. »Ich glaube, das habe ich schon mal gehört.«
»Was für ein Scheiß!«
Byrne stimmte ihr zu, aber er musste sie fragen. »Warum?«
»Die Leute behaupten doch immer, das Leben sei gerecht. Stimmt’s? Den Kindern wird erzählt, sie könnten alles werden, was sie wollen. Man sagt ihnen, wenn sie fleißig lernen, stehe ihnen die Welt offen. Sie könnten alles erreichen. Klemm dich dahinter! Setz dich auf den Hosenboden! Leg dich ins Zeug!«
Byrne widersprach ihr nicht. »Ja, stimmt, das bekommen Kinder gesagt.«
Jessica beugte sich hinunter. Ihre Gedanken gingen nun in eine andere Richtung. Sie trank noch einen kleinen Schluck. »Was haben diese Mädchen getan, dass sie so ein Schicksal erleiden mussten, Kevin?«
»Ich weiß es nicht.« Für Byrne war es eine ungewohnte Situation. Normalerweise war er der melancholische Betrunkene, und Jessica war die Vernünftige. Mehr als einmal – öfter, als er zählen konnte – hatte Jessica seinem trunkenen Geschwätz gelauscht: an einer zugigen Straßenecke, am Ufer des Flusses oder auf einem heißen Parkplatz in Northern Liberties. Er stand in ihrer Schuld, aus vielen Gründen. Er hörte ihr zu.
»Ich meine ... Die Mädchen laufen von zu Hause weg. Hat das damit zu tun? War das ihr Verbrechen? Scheiße, ich bin auch mal abgehauen.«
Byrne war schockiert. Die kleine Jessica Giovanni war von zu Hause weggelaufen? Jessica, die streng katholisch erzogene, strebsame Schülerin und Tochter eines Cops, der so viele Auszeichnungen wie kaum ein anderer in der Geschichte des Philadelphia Police Departments bekommen hatte?
» Du bist mal von zu Hause abgehauen?«
»Hundertpro. Ich schwör’s.« Sie trank noch einen Schluck aus der Flasche, diesmal mit theatralischer Gebärde nach dem Vorbild von Die Tage des Weines und der Rosen , und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Ich kam nur bis zur Ecke Zehnte und Washington«, fügte sie hinzu. »Aber ich hab’s getan.«
Jessica bot Byrne die Flasche an. Er nahm sie entgegen. Erstens hatte er gegen einen Schluck Whiskey nichts einzuwenden. Zweitens war es wahrscheinlich keine schlechte Idee, Jessica die Flasche wegzunehmen. Sie schwiegen eine Zeitlang.
»Warum tun wir das, verdammt noch mal?«, fragte Jessica schließlich laut und deutlich.
Das ist sie, dachte Byrne. Die Frage schlechthin. Alle Detectives in allen Mordkommissionen überall auf der Welt stellten sich ab und zu diese Frage. Manche stellten sie sich jeden Tag.
»Ich weiß es nicht«, sagte Byrne. »Ich schätze, weil wir nichts anderes mehr können.«
»Okay. Okay. Okay. Kann sein. Aber wann weiß man, dass es Zeit ist, die Brocken hinzuschmeißen? Das möchte ich wirklich gerne wissen.
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