Byrne & Balzano 4: Septagon
festgestellt, dass mehrere Dutzend mp3-Dateien auf dem Stick gespeichert waren, zum größten Teil Songs von Interpreten, von denen Jessica noch nie gehört hatte. Sie fügte einige davon ihrer iTunes-Bibliothek hinzu.
Ihre Glock lag auf dem Rand des Waschbeckens, genau neben einem Wasserglas, das ungefähr zur Hälfte mit Wild Turkey gefüllt war.
Jessica ließ noch ein wenig heißes Wasser in die Wanne laufen. Es war beinahe schon kochend heiß, aber es konnte ihr gar nicht heiß genug sein. Sie wollte die Erinnerung an Katja Dovic, Monica Renzi und Caitlin O’Riordan vergessen. Jessica hatte das Gefühl, als würde sie die Gedanken daran nie mehr loswerden.
Eve Galvez’ Musik war eine Mischung aus Pop, Salsa, Tejano , Danzón – eine Art alter kubanischer Tanzmusik – und Huayno , peruanischer Folklore. Gute Musik. Neue Musik. Andere Musik. Jessica hörte sich ein paar Stücke von einer gewissen Marisa Monte an und beschloss, den Rest auf ihrem iPod zu speichern.
Sie stieg aus der Wanne, zog ihren bequemen, flauschigen Bademantel an und ging in das kleine Zimmer neben der Küche, das sie und Vincent als Computerraum nutzten. Der Raum war sehr klein, bot aber Platz für einen Tisch, einen Stuhl und einen G5-Computer. Jessica schenkte sich Whiskey nach, setzte sich und wählte den USB-Stick an. Jetzt entdeckte sie einen Ordner mit dem Namen vademecum , den sie vorher nicht gesehen hatte. Sie öffnete ihn durch einen Doppelklick.
Augenblicke später wurden auf dem Monitor mehr als zweihundert Dateien angezeigt. Es waren weder System- noch Musikdateien, sondern private Dateien von Eve Galvez. Jessica schaute sich die Größe der Dateien an. Es waren alles .jpg-Dateien.
Bilder.
Keine der Dateien war mit Namen versehen: sie waren lediglich nummeriert, beginnend bei hundert.
Jessica klickte auf die erste Datei und hielt den Atem an, als die Preview gestartet wurde, der Bildbetrachter, den sie auf ihrem Computer benutzte. Es musste irgendein Foto sein. Jessica wusste nicht, ob sie es sehen wollte – oder sehen sollte.
Als sie Augenblicke später das Bild auf dem Monitor hatte, war sie überrascht: Es war das eingescannte Foto eines Blattes Papier, einer vergilbten, gelochten Seite mit blauen Linien aus dem Aufsatzheft einer Schülerin. Das Blatt war mit der schrägen, geschwungenen Handschrift einer jungen Frau beschrieben.
Jessica scrollte zum Anfang der Datei. Als sie das handgeschriebene Datum las, stockte ihr der Atem.
3. September 1988.
Es war Eve Galvez’ Tagebuch.
49.
3. September 1988
Ich verstecke mich.
Ich verstecke mich, weil ich seine Wut kenne. Ich verstecke mich, weil es beim letzten Mal, als ich einen so schrecklichen Zorn in seinen Augen gesehen habe, über sechs Monate gedauert hat, bis alles verheilt war. Die Knochen in meinem rechten Arm tun noch heute weh, wenn ein Gewitter heraufzieht. Ich verstecke mich, weil meine Mutter mir nicht helfen kann, nicht mit ihren Tabletten und nicht mit ihren Liebhabern. Auch mein Bruder kann nichts für mich tun, mein süßer Bruder, der ihm einmal die Stirn geboten hat und so teuer dafür bezahlen musste. Ich verstecke mich, weil es ganz schnell mein Ende und den Schlusspunkt meiner kurzen Geschichte bedeuten könnte, würde ich es nicht tun.
Da! Jetzt höre ich ihn in der Eingangshalle des Hauses, seine schweren Stiefel auf den Naturfliesen ... Er kennt dieses Versteck nicht, diese Höhle, die schon so oft meine Rettung war, diese verstaubte Zufluchtsstätte unter der Treppe. Auch von diesem Tagebuch weiß er nichts. Ich will gar nicht daran denken, was er tun wird, wenn er diese Worte jemals liest.
Das Trinken hat seinen Verstand zerstört und ein Haus aus roten Spiegeln daraus gemacht, wo er mich nicht sehen kann. Nur sich selbst kann er sehen, sein eigenes grässliches Gesicht, das sich tausendmal spiegelt wie eine unbezwingbare Armee.
Ich höre, dass er die Treppe hinaufsteigt, genau über mir, und meinen Namen ruft. Es wird nicht lange dauern, bis er mich findet. Kein Geheimnis bleibt für immer.
Ich habe Angst. Ich habe Angst vor Arturo Emmanuel Galvez. Vor meinem Vater.
Vielleicht kann ich nie wieder etwas in dieses Tagebuch schreiben.
Liebes Tagebuch, sollte ich nichts mehr schreiben und nie mehr mit dir sprechen, wollte ich dir nur sagen, warum ich tue, was ich tue.
Ich verstecke mich.
1. August 1990
Es gibt einen Ort, an den ich gehe, einen Ort, der nur hinter meinen Augen existiert. Alles fing an, als ich zehn Jahre alt war.
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