Byrne & Balzano 4: Septagon
Ein Licht am Himmel. Eher wie ein gelber Mond vielleicht, ein zartes gelbes Licht an einem silbernen Himmel. Das Verandalicht des Himmels.
Bald bekommt der Mond ein Gesicht. Das Gesicht des Teufels.
22. Januar 1992
Gestern bin ich abgehauen. Ich bin eine Zeitlang auf der Frankford Avenue getrampt und wurde mehrmals ein Stück mitgenommen. Ein Typ wollte mit mir nach Florida fahren. Hätte er nicht wie Freddy Krueger ausgesehen, hätte ich vielleicht darüber nachgedacht. Ich habe trotzdem darüber nachgedacht. Hauptsache weg von Dad.
Ich sitze auf den Stufen der Treppe vor dem Kunstmuseum. Es ist kaum zu glauben, dass ich fast mein ganzes Leben in Philadelphia verbracht habe und noch nie hier gewesen bin. Es ist eine andere Welt.
Eines Tages wird Enrique hier vertreten sein. Er wird Bilder malen, die die Welt zum Lachen, zum Nachdenken und zum Weinen bringen. Er wird berühmt sein.
23. Juli 1995
Ich verstecke mich noch immer. Ich verstecke mich vor meinem Leben, vor meinen Verpflichtungen. Ich beobachte alles aus der Ferne.
Diese winzigen Finger. Diese dunklen Augen.
Das sind Augenblicke des Glücks.
3. Mai 2006
Niemand, der wirklich glücklich ist, ist alkoholabhängig oder drogensüchtig. Das schließt sich gegenseitig aus. Man nimmt Drogen nicht, weil man jemanden liebt, sondern anstatt jemanden zu lieben.
2. Juni 2008
Ich laufe durch die Badlands. Die Nächte hier sind aus zersplittertem Glas und zerbrochenen Menschen. Ich trage jetzt zwei Waffen bei mir. Die eine ist meine Dienstwaffe, eine Glock .17. Volles Magazin und eine Kugel in der Kammer. Es gibt keine Sicherheit. Ich trage sie an einem Holster an der Hüfte.
Die andere Waffe ist eine Beretta .25 in einem Knöchelholster. Ich betrete kein Lebensmittelgeschäft, ohne die Hand an dieser Waffe zu haben. Wenn ich durch die Straßen gehe, habe ich stets einen Finger am Abzug. Wenn ich im Wagen durch die Stadt fahre, sogar durch Center City, spüre ich das vertraute Gewicht am rechten Oberschenkel. Sie ist immer in Reichweite. Sie ist jetzt ein Teil von mir.
Ich trinke zu viel. Ich schlafe nicht. Der Wecker klingelt um sechs. Ich trinke einen Schluck, ehe ich dusche, Kaffee trinke und in den Spiegel schaue. Kein Frühstück. Was ist das? Brötchen und Orangensaft mit Jimmy Valentine? Wann habe ich zum letzten Mal gelacht?
Ich wünsche mir so sehr, wenigstens eine einzige Nacht gut zu schlafen. Ich würde alles dafür geben, eine ganze Nacht durchzuschlafen. Für die selige Ruhe einer Nacht würde ich mein Leben geben.
Graciella , mi amor. Ich habe nichts. Nicht mehr.
Ich laufe durch die Badlands, suche, sterbe, frage.
Ich lege es darauf an, gefunden zu werden.
Finde mich.
50.
U M M ITTERNACHT FING ES zu regnen an. Zuerst goss es in Strömen. Ungeheure Wassermassen gingen auf die Straßen und Gebäude der dankbaren Stadt nieder. Zwischendurch ließ der Regen immer wieder nach, und jetzt nieselte es nur noch. Der Asphalt dampfte. Mit den Schlaglöchern, den wild abgestellten Schrottautos und den flackernden Neonlichtern sah es hier aus wie auf einem anderen Planeten. Auf der Kensington herrschte kaum Verkehr. Die wenigen Fahrzeuge kamen in den Genuss einer kostenlosen Wagenwäsche, die den Staub heißer, trockener Augusttage von den Karosserien spülte. In der Ferne hörte man das Dröhnen fünf verschiedener Raprhythmen.
Jessica hatte mehr als zwanzig Einträge aus Eve Galvez’ Tagebuch gelesen. Beim Lesen hatte sie schnell bemerkt, dass die Dateien nicht geordnet waren. Eve als Kind, Eve als Erwachsene, Eve als Jugendliche. Jessica las sie in der Reihenfolge, in der sie eingescannt waren. Mehr als hundert Dateien hatte sie noch gar nicht geöffnet.
Nachdem Jessica die ersten Einträge gelesen hatte, waren ihr Tränen in die Augen gestiegen. Sie konnte nichts dagegen tun. Eve war missbraucht worden. Ihr Vater war ein Ungeheuer. Schließlich war das Mädchen von zu Hause ausgerissen.
Ein Mord folgte auf den anderen – Monica Renzi, Caitlin O’Riordan, Katja Dovic, Eve Galvez.
Jessica stand im Hauseingang und ließ den Blick schweifen. Dies hier war eines der schlimmsten Viertel der Stadt. Eve Galvez war in der Nacht durch diese Straßen gelaufen. Hatte sie das mit ihrem Leben bezahlt?
Jessica setzte die Ohrhörer auf. Sie schaute auf das von hinten beleuchtete LCD-Display, scrollte nach unten und wählte einen Song aus. Sofort erklangen laute Rhythmen. Sie spürte das Trost spendende Gewicht der Tomcat .32 in dem flachen Holster. Eve
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