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Byrne & Balzano 4: Septagon

Titel: Byrne & Balzano 4: Septagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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Spitzentaschentuch. Ihr teurer, burgunderroter Kaschmirmantel hob sich von der grauen Dunkelheit ab. Martin Swann stand neben ihr, mit geraden Schultern und trockenen Augen. Er hatte seinem Sohn beigebracht, seine Gefühle zu beherrschen, und er hatte nicht die Absicht, nun selbst das Gesicht zu verlieren.
    Als das Schiff in See stach, brannte Karl sich das Bild der beiden Gestalten am Ufer ins Gedächtnis. Seine wundervolle Mutter und sein unerschütterlicher Vater. So würde er sie für immer in Erinnerung behalten, denn er sah sie nie wieder.
    Philadelphia 1938
    Kensington lag im Nordosten Philadelphias und grenzte an Fishtown, Port Richmond, Junita und Frankford. In diesem Viertel wohnte die Arbeiterschicht der Stadt.
    Im November 1938 zog Karl Swann zu seinen entfernten Verwandten, seinem Vetter Nicholas und seiner Cousine Vera Ehrlinger. Sie lebten in einem engen Reihenhaus in der Emerald Street. Beide arbeiteten in den Craftex Mills. Karl besuchte die Saint Joan of Arc School.
    Ende der Dreißigerjahre war Philadelphia ein Tummelplatz für Zauberer und Zauberei. Es gab einen Ortsverein der Internationalen Vereinigung der Zauberer, eine Gesellschaft der amerikanischen Magier, den Yogi Club sowie den Houdini Club, einen kleinen Zusammenschluss von Zauberern, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, das Andenken an Harry Houdini zu ehren.
    Eine Woche nach seinem zehnten Geburtstag fuhr Karl mit seinem Vetter Nicholas mit der Straßenbahn nach Center City, um eine Tischdecke für das Essen am Thanksgiving Day zu kaufen. Karl bestaunte den Weihnachtsschmuck und die Auslagen am Rittenhouse Square. Als sie die Ecke Dreizehnte und Walnut erreichten, ging Nicholas weiter, doch Karl blieb stehen. Ihn fesselte ein Plakat im Schaufenster von Kanter’s Magic. Es war das erste Geschäft dieser Art in Philadelphia. Die Kundschaft bestand aus Hobby-Zauberern, aber auch aus professionellen Magiern.
    Das Plakat im Fenster – eine bunte, bizarre Darstellung von Tauben und grinsenden Harpyien – kündigte eine Vorführung an, die in zwei Wochen stattfand und die Karls kühnste Erwartungen übertreffen sollte. Der Star der Show war ein gewisser Harry Blackstone.
    In den nächsten zehn Tagen übernahm Karl jeden Job, den er bekommen konnte. Er trug Zeitungen aus, putzte Schuhe und wusch Autos. Schließlich hatte er genug Geld zusammen. Drei Tage vor der Show ging er ins Theater und kaufte sich eine Eintrittskarte. Die nächsten beiden Nächte lag er wach im Bett und betrachtete die Eintrittskarte im Mondschein.
    Endlich war der Tag gekommen.
    Von seinem Platz auf dem Balkon verfolgte Karl das unglaubliche Spektakel. Er sah eine phänomenale Illusion, den »Sepoy-Aufstand«, ein magisches Theaterstück, benannt nach dem Aufstand der indischen Eingeborenensoldaten gegen die britischen Kolonialherren Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. In dieser Darbietung wurde Blackstone von Arabern gefangen genommen, an die Mündung einer Kanone gebunden und von der Kugel zerfetzt. Während der fantastischen Vorstellung fielen die weiblichen Zuschauer reihenweise in Ohnmacht oder flüchteten schreiend aus dem Theater. So bekamen sie niemals zu sehen, dass der Henker kurz nach dem Kanonenschuss seinen Turban und den Bart abriss und sich als Blackstone persönlich zu erkennen gab.
    Bei einem anderen Zauberkunststück ließ Blackstone brennende Glühbirnen mitten durch eine Frau hindurchgleiten. Jedes Mal stöhnte das Publikum schockiert und schnappte entsetzt nach Luft.
    Der Höhepunkt von Blackstones Künsten aber war die zersägte Jungfrau. In Blackstones Version hieß der Trick »die Todessäge«. Eine Frau wurde mit dem Gesicht nach unten auf einen Tisch gebunden; dann fraß sich eine große Kreissäge mitten durch sie hindurch. Als Karl diese Vorführung zum ersten Mal sah, liefen ihm Tränen über die Wangen, allerdings nicht aus Mitleid für die arme Frau – der ging es natürlich blendend –, sondern weil diese Illusion ihn so tief und nachhaltig beeindruckt hatte. Blackstone erreichte mit seinen magischen Händen ein Niveau, das über Verzauberung, ja, sogar über das Theater hinausging. Für Karl Swann hatte es die Ebene wahrer Magie erreicht. Blackstone hatte das Unmögliche möglich gemacht.
    In dem Sommer, als Karl vierzehn Jahre alt wurde, verbrachte er jeden Samstagnachmittag in Kanters Geschäft und bedrängte Mike, den Besitzer, ihm zu zeigen, wie verschiedene Zaubertricks funktionierten. Eines Tages betrat Karl einen Schuppen

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