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Byrne & Balzano 4: Septagon

Titel: Byrne & Balzano 4: Septagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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scheinbar endlose Anzahl von Karten hervor, die er in einen Zylinder auf einen kleinen Tisch fallen ließ.
    »Was hast du gesehen, Joseph?«
    Der Zehnjährige nahm Haltung an. »Nichts, Sir.« Das war eine Lüge. Seinem Vater war ein Fehler unterlaufen, und das bedeutete, dass er versehentlich einen Teil seines Geheimnisses enthüllt hatte. Das passierte Karl Swann in letzter Zeit häufig.
    »Du hast also keinen Patzer gesehen?«
    »Nein, Sir.«
    »Bist du sicher?«
    Joseph zögerte, und das besiegelte sein Schicksal. »Ja, Sir«, sagte er, doch jetzt war es zu spät. In den Augen seines Vaters blitzte fürchterliche Wut auf. Joseph wusste, dass ihm eine grauenvolle Nacht bevorstand.
    Zur Strafe zerrte sein Vater ihn ins Bad und steckte ihn in eine Zwangsjacke. Allerdings war es eine Zwangsjacke für einen Erwachsenen, und so gelang es Joseph nach zwei Minuten – sein Vater hatte das Zimmer kaum verlassen, um in die Hotelbar zu gehen –, die Arme nach vorne zu bekommen. Jetzt hätte er die Schnallen mühelos öffnen können, doch das wagte er nicht. Deshalb blieb er an Ort und Stelle sitzen.
    Um Mitternacht kam sein Vater zurück, schnürte die Zwangsjacke auf, ohne ein Wort zu sagen, und trug den schlafenden Joseph ins Bett. Er küsste den Jungen auf den Scheitel.
    Auf ihren Tourneen durch Texas, Oklahoma und Louisiana trafen sie oft junge Leute, die am Rande der Shows herumlungerten, die meistens auf Jahrmärkten veranstaltet wurden. Es waren die Herumtreiber, die ungeliebten Kinder, die zu Hause niemand vermisste. Meistens waren es Mädchen. Mit diesen Ausreißerinnen verbrachte Joseph seine Freizeit, wenn sein Vater stundenlang betrunken im Bett lag oder das örtliche Bordell aufsuchte.
    Molly Proffitt war zwölf Jahre alt, als sie von Stillwater, Oklahoma, ausriss, um ihrem brutalen Elternhaus zu entfliehen. Der zierliche, gelenkige Wildfang mit den kornblumenblauen Augen und dem rotblonden Haar schloss sich der Great-Cygne-Show an, als diese in Chickasha gastierte. Zu dem Zeitpunkt lebte Molly schon seit einem Monat auf der Straße. Karl Swann stellte sie allen als seine Nichte vor, und Molly spielte schon bald eine wichtige Rolle bei den Vorführungen. Sie half Odette beim Ankleiden, reinigte und polierte Schränke und ließ sogar den Hut herumgehen, wenn sie spontan auf Marktplätzen auftraten.
    Karl schenkte dem Mädchen so große Aufmerksamkeit, als wäre es seine eigene Tochter, und sie verdrängte Joseph mehr und mehr. Nach und nach ersetzte Molly ihn nicht nur bei den Vorführungen seines Vaters, sie nahm auch in dessen Leben Josephs Platz ein.
    Nachdem ein paar Wochen ins Land gezogen waren, setzte Molly alles daran, bei einem besonders spektakulären Zaubertrick, dem sogenannten »Seepferdchen«, Josephs Platz auf der Bühne zu übernehmen. Im Mittelpunkt dieser Darbietung stand ein großer Wassertank. Jeden Abend stieg Molly vor dem Essen Hunderte Male auf die Plattform und ging sogar so weit, den Knicks am Ende ihres Auftritts zu üben.
    Eines Abends beobachtete Joseph das Mädchen. Er schaute Molly zu, als sie die Treppe zum Wassertank hinaufstieg, oben posierte und wieder herunterkam. Unermüdlich übte sie jeden ihrer Schritte. Um sieben Uhr nahm sie im Transporter ihr Essen ein – ein kärgliches Mahl aus Bohnen und gepökeltem Fleisch – und kehrte anschließend zum Wassertank zurück. Wieder stieg sie die Treppe hinauf. Als sie dieses Mal oben ankam, brach die Plattform zusammen.
    Molly stürzte in den Wassertank. Dabei stieß sie sich den Kopf an einer scharfen Kante des gläsernen Tanks, riss sich eine klaffende Wunde in die Stirn und verlor das Bewusstsein. Als sie langsam zu Boden sank, ging Joseph so nahe an den Tank heran, dass er ihn beinahe mit der Nasenspitze berührte. Der Anblick faszinierte ihn, vor allem die Blutschlieren, die über dem Kopf des Mädchens im Wasser schwebten. Es war ein dunkelrotes Gebilde, das in Josephs Augen einem Seepferdchen ziemlich ähnlich sah.
    Es stiegen schon lange keine Luftblasen mehr an die Oberfläche, und das Wasser hatte einen rosafarbenen Ton angenommen, als Joseph die Stufen hinaufstieg und die vier Schrauben wieder festzog, mit der die Plattform befestigt wurde.
    Kurz nach Mitternacht spähte er aus dem Hotelfenster. Im trüben Licht der Straßenlaternen sah er seinen Vater und Odette, die einen großen Leinensack durch die Hintertür hinaustrugen. Sie legten den Sack in den Kofferraum einer schwarzen Limousine und jagten davon in die

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