Byrne & Balzano 4: Septagon
dunklem Haar. Jessica wusste, dass die Meldung bald gelöscht und durch ein anderes Mysterium und einen anderen Fall ersetzt werden würde.
Sie fragte sich, ob Eve Galvez’ Mörder diese Website jemals besucht hatte. Hatte er nachgesehen, ob seine Tat die Polizei noch immer vor ein Rätsel stellte? Hatte er in den Tageszeitungen nach Schlagzeilen gesucht, die ihn darüber aufklärten, dass sein Geheimnis entdeckt worden war und ein neues Spiel begonnen hatte? Ob der Killer wohl gelesen hatte, dass eine im Fairmount Park vergrabene Leiche gefunden worden war? Dass die Behörden die sterblichen Überreste noch nicht identifiziert hatten? Dass man alles daransetzte, ihn zu schnappen, wer immer er sein mochte?
Jessica fragte sich, ob er sich Sorgen machte, eine Spur hinterlassen zu haben, ein Haar, die Faser eines Kleidungsstückes oder einen Fingerabdruck – Spuren, die dazu führen konnten, dass es mitten in der Nacht an seine Tür klopfte oder dass plötzlich ein halbes Dutzend 9-mm-Pistolen auf sein Wagenfenster gerichtet waren, während er vor einer roten Ampel in Center City wartete und mit offenen Augen über sein verpfuschtes Leben nachsann.
Um acht Uhr morgens betrat Kevin Byrne das Büro. Jessica lief geradewegs an ihm vorbei und durchquerte die endlosen Flure. Sie gönnte ihrem Partner nicht einen Blick und wünschte ihm keinen guten Morgen. Byrne wusste, was das bedeutete, und folgte ihr. Als sie außer Hörweite der Kollegen waren, zeigte Jessica anklagend mit dem Finger auf ihn: »Wir müssen reden.«
Byrne starrte einen Moment auf den Boden und blickte Jessica dann in die Augen.
Sie wartete. Byrne schwieg. Jessica warf die Hände in die Luft. Nun sag doch was! Noch immer nichts. Doch sie ließ nicht locker. »Du hast dich also mit ihr getroffen?«, fragte sie schließlich, erkennbar bemüht, nicht laut zu werden.
»Ja«, sagte Byrne. »Ab und zu.«
»Okay. Habt ihr euch auch noch getroffen, als sie vermisst wurde?«
»Da war es schon lange vorbei.« Byrne lehnte sich gegen die Wand und schob die Hände in die Taschen. Jessica kam es so vor, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sein Anzug und seine Krawatte waren zerknittert. Kevin Byrne gehörte nicht zu den Männern, die Wert darauf legten, stets nach der neuesten Mode gekleidet zu sein, doch Jessica wusste, dass er sich für das Erscheinungsbild der Cops verantwortlich fühlte. Und dazu gehörten saubere Hemden, gebügelte Anzüge und geputzte Schuhe.
»Du willst die ganze Geschichte hören?«, fragte er.
Einerseits ja, andererseits nein. »Ja.«
Byrne zögerte einen Moment und strich über die tiefe Narbe über seinem rechten Auge, die er dem brutalen Angriff eines Mordverdächtigen vor vielen Jahren zu verdanken hatte. »Wir haben beide schnell erkannt, dass es zu nichts führt«, sagte er. »Wahrscheinlich hatten wir das schon beim ersten Date begriffen. Wir waren völlige Gegensätze. Wir hatten nie eine feste Beziehung und trafen uns immer auch mit anderen. Vergangenen Herbst beschränkten unsere Kontakte sich auf kaum mehr als ein paar einfallslose Grußkarten und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, die mitten in der Nacht im Suff hinterlassen wurden.«
Jessica dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass Byrnes Auskünfte ihr nicht reichten. Sie wollte mehr darüber erfahren. Jessica glaubte, eine ganze Menge über ihren Partner zu wissen. Sie wusste, dass er seine Tochter Colleen über alles liebte, dass er in seinem Job aufging und dass er mittrauerte, wenn eine Familie ein Mordopfer zu beklagen hatte. Sie wusste aber auch, dass es in seinem Privatleben Bereiche gab, aus denen sie ausgeschlossen war und immer bleiben würde. So war sie beispielsweise noch nie in seiner Wohnung gewesen. Auf dem Bürgersteig unter seinem Wohnzimmerfenster hatte sie schon mal gestanden, das ja. Um die Ecke geparkt im Auto, wo sie über einen Fall gesprochen hatten, das ja. Schon des Öfteren. Doch Kevin Byrnes Wohnung hatte sie tatsächlich noch nie betreten.
»Hat das FBI dich kontaktiert, als das Mädchen vermisst wurde?«
»Ja«, sagte Byrne. »Terry Cahill. Erinnerst du dich an ihn?«
Jessica erinnerte sich. Cahill hatte das Philadelphia Police Department vor ein paar Jahren bei den Ermittlungen in einem besonders grausamen Fall unterstützt und hätte beinahe mit dem Leben dafür bezahlt.
»Natürlich kann ich mich an Cahill erinnern«, sagte Jessica.
»Ich habe ihm gesagt, was ich wusste.«
Schweigen. Jessica hätte Byrne am
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