Byrne & Balzano 4: Septagon
länger. Er trug dieselbe Kleidung, denselben Hut. Seine Miene war unverändert. Er wirkte auf Byrne wie erstarrt, als hätte ihm jemand alles genommen, was ihn zu einem Menschen machte, und nur eine spröde Hülle zurückgelassen.
Der Mann war Robert O’Riordan, der dort Wache hielt, ähnlich einer Totenwache, obwohl seine Tochter bereits gestorben war. Vielleicht lebte sie für ihn ja noch. Vielleicht rechnete er damit, dass sie wie eine geisterhafte Julia in einem der Fenster auftauchte.
Oder waren seine Wünsche eher praktischer Natur? Glaubte er, dass Caitlins Mörder an den Tatort zurückkehrte, wie man es von Mördern oft behauptete?
Was würde er dann tun?, fragte Byrne sich. War er bewaffnet? Hatte Caitlins Vater die Nerven, nur auf der Grundlage eines Verdachts auf den Abzug zu drücken oder mit einem Messer zuzustechen?
Byrne hatte in seinen zahlreichen Dienstjahren mit Hunderten von Vätern gesprochen, die einen Sohn oder eine Tochter durch ein Gewaltverbrechen verloren hatten. Jeder Einzelne hatte auf seine Weise in die Dunkelheit gestarrt.
Wie viele Väter würde Byrne noch kennenlernen, ehe er in den Ruhestand trat? Wie viele Väter spielten in diesem Augenblick Fußball oder sahen sich eine Ballettaufführung an oder standen an einem Swimmingpool und hatten nicht die geringste Ahnung, was die Welt noch für sie bereithielt?
Byrne beobachtete den Mann. Er war für ihn nicht erreichbar. Nicht jetzt.
Er ließ den Motor an. Ehe er sich in den Verkehr einfädeln konnte, klingelte sein Handy. Es war Jessica.
»Wir haben was«, sagte sie. »Komm ins Labor.«
37.
T RACY M C G OVERN WAR die stellvertretende Leiterin des kriminaltechnischen Labors. Eine große, schlanke Frau von fünfzig Jahren mit ergrautem schulterlangen Haar und gerade geschnittenem Pony. Sie bevorzugte weite, schwarze Hosenanzüge, Rock-and-Roll-T-Shirts und bequeme Ecco-Schuhe. Bevor Tracy in ihre Heimatstadt Philadelphia zurückgekehrt war, hatte sie fast zehn Jahre im DNA-Labor des FBI gearbeitet. In dieser Abteilung wurden Beweisstücke ungelöster Fälle sowie Fundstücke untersucht, die kaum biologisches Material enthielten. Nach Aussage ihrer Kollegen besaß Tracy die einzigartige Fähigkeit, binnen vierundzwanzig Stunden dreimal ein kurzes Nickerchen an ihrem Schreibtisch zu machen und dann weiterzuarbeiten, bis sie den Täter geschnappt hatten. Tracy McGovern war nicht so sehr ein Bluthund, eher ein Windhund.
Die drei Kisten vom Tatort in der Shiloh Street standen auf dem Boden. Im grellen Licht des Labors sahen die Farben noch fröhlicher und bunter aus – ein Anblick, der schwer in Einklang zu bringen war mit dem Verwendungszweck der Kisten.
»Auf den Kisten waren keine Fingerabdrücke«, sagte Tracy. »Sie wurden sehr gründlich mit einem normalen Haushaltsreiniger abgewischt.«
Byrne staunte erneut über die fachmännische Anfertigung der Kisten. Die Gehrungen waren nahezu unsichtbar.
»Die Scharniere sehen teuer aus«, sagte Byrne.
»Sind sie auch«, erwiderte Tracy. »Sie wurden von Grass hergestellt, einem österreichischen Unternehmen. Man kann sie nur bei einem Dutzend Firmen im Internet bestellen. Sie wollen das sicher überprüfen.« Tracy reichte Byrne einen Ausdruck mit den Firmenadressen. »Wir untersuchen die Kisten noch immer nach Spuren, aber ich wollte Ihnen etwas anderes zeigen.«
Tracy durchquerte das Labor und kehrte mit einer großen Papierbeweistüte zurück. »An den ersten Ermittlungen war ich nicht beteiligt, daher hielt ich es für besser, mir das hier anzusehen.«
Sie griff in die Tüte und zog Caitlin O’Riordans Rucksack heraus.
»Detective Pistone hat den Rucksack noch am Tatort ausgeleert und den Inhalt ins Labor gebracht.« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich einen ehemaligen Kollegen kritisieren muss, aber das war schlampige Arbeit. Der Rucksack wurde zwar von außen auf Fingerabdrücke untersucht, von innen jedoch ausgesaugt, gereinigt und in ein Regal gelegt. Wir haben ihn jetzt noch einmal auf Fingerabdrücke untersucht. Es wurden nur die von Miss O’Riordan gefunden. Um die Haare und Fasern kümmern wir uns heute.«
Tracy zog den Reißverschluss auf.
»Ich habe mir den Rucksack von innen ganz genau angesehen«, sagte sie. »Er hat einen Einlegeboden aus Plastik.«
Tracy stülpte das Innere des Rucksacks nach außen. Der Einlegeboden war an einer Ecke aufgerissen. »Sehen Sie? Ich hab da reingesehen und ein Stück vom Titelblatt einer Zeitschrift
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