Byrne & Balzano 4: Septagon
sie sah, steckte er die Gartenschere in die Tasche und zog die Ohrhörer heraus.
»Mr Galvez?«
»Ja«, erwiderte er. »Sind Sie von der Polizei?«
Mann, wunderte Jessica sich. Sah man ihr das an der Nasenspitze an? Sie wies sich aus und sagte: »Ja, bin ich.« Die goldene Dienstmarke funkelte in der Morgensonne. »Ich würde gerne kurz mit Ihnen sprechen.«
Enrique Galvez schaute einen Moment auf die Erde und auf seine Blumen. Das Beet zu seinen Füßen strahlte in leuchtenden Farben. Dann hob er wieder den Blick. »Ich hab schon mit den beiden Detectives gesprochen. Mit einer Miss Malone und einem Mister ...«
»Shepherd«, sagte Jessica. »Ich weiß. Ich habe auch nur noch ein paar Fragen.« Jetzt verletzte sie die Vorschriften. Offiziell. Doch es ging nicht anders.
»Ich verstehe«, sagte Enrique.
Einen Augenblick standen sie beide da, und keiner sagte ein Wort. In der Ferne hörte Jessica ein Baby weinen. Vielleicht zwei Häuser weiter. »Darf ich reinkommen?«
Enrique erwachte aus seiner Erstarrung. »Natürlich«, sagte er. »Wo bleibt mein Benehmen? Verzeihen Sie.« Er stieg die Treppe zur Veranda hinauf, öffnete die Tür und hielte sie Jessica auf. »Bitte.«
Das kleine Wohnzimmer, in dem Braun-, Rost-, Creme- und Jadetöne vorherrschten, war in einem maskulinen Southwestern-Stil eingerichtet. An den Wänden hingen hübsch gerahmte Aquarelle einiger Wahrzeichen von Philadelphia – City Hall, Boathouse Row, Independence Hall, das Betsy Ross House. In einem Käfig in der Küche zwitscherte ein Sittich.
»Wer ist der Künstler?«, fragte Jessica.
»Oh«, sagte Enrique und errötete leicht. »Ich bin der Künstler. Die Bilder habe ich selbst gemalt. Ist aber schon lange her.«
»Sie sind sehr schön.«
»Danke.« Es schien Enrique unangenehm zu sein, auf sein Talent angesprochen zu werden. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Nein, danke.«
Enrique zeigte auf die Couch. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
»Ich weiß, dass es sehr schwer für Sie ist«, sagte Jessica. »Es tut mir leid.«
»Danke.«
Jessica nahm Platz, setzte sich bequem hin und zog ihr Notizheft aus der Tasche. Ihr privates Notizheft. »Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal gesehen?«
»Ich habe den anderen Detectives schon gesagt, dass wir zusammen essen gegangen sind«, sagte Enrique. »An dem Tag, als sie spurlos verschwand. Wir waren im Palm.«
»Nur Sie und Ihre Schwester?«
»Ja.«
»Hat Eve etwas Ungewöhnliches gesagt oder sich seltsam verhalten?«
Enrique schüttelte den Kopf. »Das einzig Normale an meiner Schwester war ihr Potenzial für das Außergewöhnliche.«
»Hat sie einen Fall erwähnt, an dem sie gerade arbeitete?«
Enrique dachte kurz nach. »Eve sprach nie viel mit mir über ihre Arbeit. Sie wusste, dass mich solche Dinge zu sehr aufregen.«
Jessica lenkte ihre Fragen in eine andere Richtung. »Sie stammen aus Peru, nicht wahr?«
»Ja. Meine Schwester und ich wurden in einem kleinen Dorf in der Nähe von Machu Picchu geboren. Wir waren fünf beziehungsweise drei Jahre alt, als wir hierhergekommen sind.«
»Sind Sie mit Ihren Eltern in die Vereinigten Staaten gekommen?«
Enrique zögerte kurz. Familienprobleme?, fragte Jessica sich. Enrique schaute aus dem Fenster. Jessica folgte seinem Blick. Zwei tollpatschige, dürre sechsjährige Mädchen in kleinen lindgrünen Bikinis rannten auf der anderen Straßenseite unter einem Rasensprenger kichernd hin und her.
»Ja«, sagte er schließlich. »Mein Vater war Ingenieur. Er arbeitete in Peru bei TelComCo. 1981 bot die Firma ihm die Chance, nach Philadelphia zu gehen, und er nahm das Angebot an. Kurze Zeit später hat er seine Familie nachgeholt.«
»Haben Sie in all der Zeit jemals gehört, dass Ihre Schwester vermisst wurde?«
Enrique schüttelte den Kopf. »Nein ...«
Es schien, als wollte er noch etwas hinzufügen. Jessica schwieg.
»In den letzten zwei Monaten habe ich mich natürlich gewundert, wo sie steckt«, sagte er. »Ich habe alle möglichen Leute gefragt. Und man weiß doch, was passiert ist, nicht wahr?«
Jessica nickte, obwohl sie sich große Mühe gab, es nicht zu tun.
»Man weiß doch, was passiert ist«, wiederholte er. »Aber man hofft immer, dass es nicht wahr ist. Die Hoffnung brennt wie eine kleine Flamme, die die furchtbare Gewissheit bekämpft, die man im Herzen spürt.«
»Es tut mir sehr leid.« Jessica hatte Angst, dass ihr das Gespräch entglitt. Sie steckte das Notizheft ein und schaute sich noch
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