Cabo De Gata
wie weit wir in jener Nacht betrunken gegangen sind), dort liegt er – ziemlich genau zwischen Cabo de Gata und dem Salzdorf.
Ein Seesarg, was sonst? Eine schmucklose, schon ziemlich verwitterte Metallkiste, ausreichend groß, dass ein Mensch hineinpasst: sogar ein sehr langer Mensch. Der Sturm hat sie nicht ganz aufs Trockene befördern können, also liegt sie zwischen Wasser und Land. Die Wellen umspülen das Ding, glucksend.
Natürlich sagt mir mein Verstand, dass es kein Sarg sein kann. Würden die Behörden einen Sarg einfach am Ufer liegen lassen? Aber womöglich hat ihn noch niemand bemerkt? Oder die Behörden streiten sich, da der Sarg genau auf der Grenze zwischen zwei Distrikten gestrandet ist, um die Zuständigkeit? Oder sind der Auffassung, irgendein Seedienst sei für die Bergung zuständig?
Jeden Nachmittag pilgere ich dorthin, um nachzuschauen, ob er noch da liegt. Meine Spaziergänge haben plötzlich ein Ziel, eine Richtung. Sie gleichen sich – abgesehen von den kleinen Veränderungen, die das Meer täglich hervorbringt, anspült, fortträgt, abgesehen von dem täglich sich ändernden Rauschen, abgesehen von der ständig wechselnden Farbe des Wassers, das, je nachdem, wie stark es bewegt ist, zwischen Silbergrau und Türkisblau changiert.
Muscheln sammle ich schon lange nicht mehr – seit ich ein paar schöne gefunden habe: für jede Frau in meinem Leben eine. Karolin hat eine stachlige, innen rötlich gefärbte Spiralmuschel bekommen. Und obwohl Sarah natürlich nicht zu meinen Frauen gehört, ja noch nicht einmal eine Frau ist, habe ich auch ihr eine Muschel gewidmet: eine weiße, glatte Venusmuschel, die zusammen mit den anderen auf dem schmalen Fensterbrett meines Zimmers liegt. Sie ähnelt auf beschämende Weise dem, worauf ihr Name anspielt, und wenn ich sie aufnehme und ihre zarte Wölbung berühre, komme ich mir ein bisschen verbrecherisch vor.
Dafür suche ich Hühnergötter: Steine mit einem Loch. Feuersteine gelten nicht. An der Ostsee, erinnere ich mich, haben Karolin und ich uns einmal ernstlich über der Frage zerstritten, ob es sich bei Feuersteinen mit Loch um echte Hühnergötter handle. Hier, in Cabo de Gata, gibt es kaum Feuersteine, allerdings würde ich einen Feuerstein auch nicht anrühren, denn ich betreibe die Suche mit abergläubischer Ernsthaftigkeit, und mir macht der Gedanke zu schaffen, dass von der Art des Steins, den ich finde, etwas abhinge – was? So genau wage ich es nicht zu umreißen. Finde ich einen schönen, runden, dann wird es schön und rund; finde ich einen mickrigen, flachen, dann wird es mickrig und flach; und lasse ich einen Feuerstein gelten, dann wird es, weil es Betrug ist, betrügerisch.
Übrigens habe ich schon zweimal einen Hühnergott gefunden. Allerdings war der eine äußerst unsymmetrisch, das Loch ganz am Rand, der andere sah aus wie eine Geschwulst. Beide habe ich verworfen, buchstäblich, nämlich ins Meer. Nun muss ich einen neuen finden, unbedingt, denn wenn nicht, wenn nicht …
So gehe ich, mit gesenktem Blick, suche den Boden ab. Muschelkalk knirscht unter meinen Füßen. Hin und wieder tauchen kleine Kieselfelder auf. Ich darf nicht stehen bleiben, seltsame Regel. Langsam gehen ist erlaubt. Ich schreite weiter, die Kiesel kratschen. Über mir schlagen die Möwen Alarm. Ich höre sie, sehe sie aber nicht. Mein Blick ist zu Boden gerichtet. Ich suche, suche … Wenn nicht, dann … Was dann? … Das Meer kichert. Es schwatzt. Das Meer atmet. Das Meer ist plötzlich still, einen Moment lang und noch einen … nur der Wind, der auf meinen Ohren herumorgelt – und dann ist es wieder da, das Meer. Meldet sich zurück, als hätte es mich hereingelegt: mit einem prustenden Lachen.
Dann bin ich am Sarg. Ich drehe ich mich um: Richtung Afrika. Richte mich auf, Augen geradeaus. Der Wind weht mir jetzt ins Gesicht. Plötzlich summe ich die amerikanische Nationalhymne. Jimi Hendrix hat sie mir beigebracht, sein berühmter Auftritt in Woodstock: Jimi Hendrix zerfleddert die amerikanische Nationalhymne, hat es geheißen. Aber was davon übrig blieb, hat gereicht, immerhin, die Melodie in meinen Kopf einzuprägen auf ewig, den fetten Dreiklang am Anfang, der sich selbst auf die Füße fällt, D-Dur, wenn ich nicht irre, und dann aufwärts, hinauf, hoch in die Lüfte erhebt sich der Ton, der heroische Ton der Fender Stratocaster, wie Hendrix sie spielte, das ist, was ich höre, wenn ich, halb nach innen gerichtet, zugleich aber über die
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