Cabo De Gata
Promenade her. Eines Tages taucht sie dort auf, hinkt mit ihrem Gehgips über die ganze Länge der Promenade auf mich zu und an mir vorbei, um in eine der letzten Gassen einzubiegen. Und während des ganzen Wegs jammert die Frau, klagt, beschwert sich – offenbar über das Ungemach, das ihr widerfahren ist: ein monotoner, halblauter Singsang, der sich an mich zu richten scheint, denn außer mir ist auf der Promenade niemand zu sehen. Die Frau ist kugelförmig; sie trägt seltsam abstehendes, krauses Haar; sie wiegt sich im Takt ihrer Hinkeschritte wie ein Stehaufmännchen – trotzdem bedarf es einer mehrtägigen Wiederholung des Schauspiels, bis ich begreife, wen diese Frau parodiert: unsere Staatsbürgerkundelehrerin Fräulein Kubick!
Genau so, obschon ohne Gehgips, wiegte Fräulein Kubick ihren runden Leib. Genau so standen ihre gekrausten Haare vom Kopf ab. Genau so klagend und einschläfernd war ihr Gesang, wenn sie – langsam, langsam – zwischen den Bankreihen wandelnd, die Grundgesetze der Dialektik verkündete – die Pausen zwischen den Worten zum Einschlafen lang genug –, wenn sie zum hundertsten Mal die weltanschauliche Grundfrage stellte, die, weil sie schon hundertmal gestellt worden war, niemand mehr zu wiederholen bereit war – eine Antwort wurde gar nicht verlangt, denn die war in einer sozialistischen Bildungseinrichtung so selbstverständlich, dass nicht einmal Fräulein Kubick auf die Idee gekommen wäre, jemand könnte sie abweichend beantworten. Nein, sie wollte die Frage hören, das hätte genügt, und dass niemand sich meldete, enttäuschte sie jedes Mal schwer, und sie sah sich genötigt, die weltanschauliche Grundfrage noch einmal, zum letzten Mal, selber zu stellen, jene Frage nämlich, die die Philosophen in Materialisten und Idealisten zu scheiden geeignet war:
Ist. Pause. Die Welt. Pause. Erkennbar.
Und hatte sie nicht recht?, denke ich, während das falsche Fräulein Kubick an mir vorbeiwankt. Ist das nicht tatsächlich die Grundfrage?
Dann kam der Amerikaner.
6
Natürlich sah der Amerikaner genau so aus, wie ich mir einen Briten vorstellte: Hose mit Bügelfalte und Umschlag, eine grüne, gewachste Jacke, ein – man verzeihe mir dieses dumme Vorurteil – pferdeähnliches Gesicht und dünnes, schwach rötliches Haupthaar, das hin und wieder – offenbar vergeblich – zu einem Scheitel gekämmt wurde.
So stand er neben meiner Bank, ein für die Gegend eindeutig zu langer Mensch, der sich vorsichtig für die Störung entschuldigte, bevor er sich zu fragen gestattete, wo man hier übernachten könne.
Beim Mittagessen sah ich ihn wieder, als er sich, wiederum höflich fragend, an meinen Tisch setzte. Er versuchte eine Bestellung auf Spanisch, mit gummiartigem Akzent, aber in fast lächerlicher Weise um grammatische Korrektheit bemüht, und ich muss zugeben, dass ich erleichtert war, als die Dickärschige diese, wie ich es zumindest im Bann ihrer Nähe empfand: Peinlichkeit mit einem scharfen Blanco o tinto beendete. Erst nachdem sie, uns ihr mächtiges Hinterteil zuwendend, fortgewalzt war, sah ich die roten Flecken im Gesicht des Amerikaners aufblühen, und ich erinnere mich, dass ich eine entschuldigende Grimasse zog, weil ich diesen abwechselnd sich hebenden Kürbisarschhälften so unverhohlen nachgeschaut hatte.
Am Nachmittag unternahmen wir gemeinsam eine Wanderung, die länger war als jede meiner Wanderungen bisher. Wir passierten den Ort mit der von allen guten Geistern verlassenen Kirche und den mächtigen Salzhügeln und stiegen dann in jenes Gebirge, hinter dem am Morgen die Sonne aufging. Irgendwo da oben stand ein Leuchtturm, an den ich mich kaum noch erinnere. Gut erinnere ich mich aber an den Blick von der Serpentinenstraße hinab, über die weite Bucht und das Dorf Cabo de Gata: bleich in der Nachmittagssonne, kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden, wie vom Meer angespült. Wie etwas, das – früher oder später – auch wieder hinweggespült würde.
Beim Abstieg, glaube ich, erzählte der Amerikaner, dass er gerade aus Saudi-Arabien komme, wohin er sich für zwei oder drei Jahre als Englischlehrer verpflichtet habe. Jetzt habe er Urlaub und wolle sich Europa anschauen, zumindest Südeuropa: Spanien, Italien und Frankreich. Über Saudi-Arabien sprach er kaum, als sei es nicht der Rede wert. In Erinnerung geblieben ist mir aber, was er über die Frauen dort sagte, oder eigentlich nicht, was er sagte, sondern wie er es sagte, und eigentlich sprach er auch
Weitere Kostenlose Bücher