Cabo De Gata
steigen, die Schuhe triefend, die Hosen bis unters Knie durchnässt. Er lacht, er ruft etwas, schlägt mit den Flügeln. Ich aber sehe: Die Hundertarmigen greifen nach ihm, die Ungeheuer, die Uranus in die Hölle verbannte.
7
Sieben Rätsel gibt es in Cabo de Gata.
Das erste Rätsel ist das Rätsel der Hundescheiße. Genauer gesagt: das der fehlenden Hundescheiße. Warum, so habe ich mich vom ersten Tag an gefragt, liegt eigentlich nie Hundescheiße auf der Promenade von Cabo de Gata – wo es doch massenhaft Hunde gibt?
Das zweite Rätsel: die Parzellen in der Steppe, mit den schäbigen Bretterbuden darauf, die von schwarzen Schäferhunden bewacht werden. Was soll das?, frage ich mich. Es sind keine Schrebergärten, keine Plätze, die zur Erholung geeignet wären. Bringen die Leute irgendwelche Wertgegenstände hierher, um sie dann von zähnefletschenden Kötern bewachen zu lassen?
Das dritte Rätsel: der Koffer. Warum stellt jemand seinen Koffer in der Steppe ab? Einen ziemlich neuen, teuren Rollkoffer, für sich schon ein Wertgegenstand. Allein die Vorstellung, dass jemand so einen Rollkoffer durch den Steppensand zieht, ist absurd. Und vor allem, so frage ich mich: Hätte ich die zum Koffer gehörige Person in der flachen Landschaft nicht sehen müssen?
Das vierte Rätsel: die grünen Tomaten, die eines Tages am Strand liegen. Man kann fragen: Was ist dabei? Ein Schiff hat ein paar Kisten Tomaten verloren. Möglicherweise sind sie im Sturm von Deck gerutscht … Aber sobald ich anfange, darüber nachzudenken, wird es rätselhaft, und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr: Seit wann werden Tomaten an Deck transportiert, in der prallen Sonne? Und wie kann es sein, dass die Tomaten hier «geschlossen» ankommen, dass sie fast lückenlos eine, sagen wir, handballfeldgroße Fläche bedecken? Und wie schaffen sie es noch Tage nach dem Sturm, bis ans obere Ende der Uferböschung zu gelangen?
Nicht ganz sicher bin ich, ob ich die hysterischen Tanten in die Zählung der Rätsel mit einbezog. Sicher bin ich jedoch in Bezug auf den Turm.
Vom Turm hätte ich längst berichten müssen, denn ich sehe ihn täglich, komme täglich daran vorbei, allerdings bin ich erst neuerdings – seit der Amerikaner verschwunden ist – seiner Rätselhaftigkeit gewahr geworden. Es ist ein mächtiges Bauwerk, das sämtliche Häuser von Cabo de Gata überragt. Es ist rund und dick und lehmgelb. Es sieht aus wie eine Schachfigur. Wie ein Festungsturm, nur ohne Festung. Stattdessen wird es von einer gerade einen Ziegelstein breiten, etwas übermannshohen Mauer umgeben, die im Verhältnis aber kläglich wirkt; man meint, sie mit dem Fuß eintreten zu können. Und noch ein Detail, das dem Turm auf unbeholfene, fast kindliche Weise Festungscharakter zu verleihen versucht: Die Eingangstür befindet sich drei oder vier Meter über dem Erdboden, und vor dieser Eingangstür erhebt sich – als eigenständiges Bauwerk – eine steile Treppe, deren meterbreiter Abstand zum Turm hoch oben durch eine kleine Zugbrücke überwunden wird. Über dem Eingang, wie von einem stolzen Hausbesitzer eigenhändig aufgeklebt, prangen glänzende, marineblaue Fliesen, in die weiße Buchstaben eingebrannt sind, die scheinbar den Zweck des Bauwerks erklären: Guardia Civil .
Aber was erklärt das? Wozu braucht ein Dorf wie Cabo de Gata ein solches Bauwerk? Und, noch seltsamer, wieso steht dieses Bauwerk unmittelbar am Strand, im Ufersand, direkt neben den Fischerbooten? Eine Polizeiwache ist es nicht (die Polizeiwache von Cabo de Gata befindet sich in einem kleinen Gebäude im Zentrum); für einen Beobachtungsturm ist das Ding zu massiv, zu gedrungen, statt auf Höhe, auf Festigkeit hin konstruiert. Andererseits ist es für eine Festung zu läppisch, allenfalls gegen mittelalterliche Waffen gefeit. Ein Bollwerk gegen Piraten? Gegen die Übergriffe der Mauren? Nur, dass es sich überhaupt nicht zur Verteidigung des Ortes eignet, sondern allenfalls zur Verteidigung seiner selbst! Ein Bauwerk, das seiner eigenen Verteidigung dient?
Das ist das sechste Rätsel. Das siebente ist der Sarg.
Seit der Sturmnacht liegt er dort, seit jener Nacht, als der Amerikaner verschwand. Zumindest habe ich ihn zum letzten Mal in dieser Nacht gesehen, und das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie er flügelschlagend die hysterischen Tanten zu imitieren versucht. Dort ungefähr, vielleicht ein Stück weiter auswärts, vielleicht aber auch nicht (denn ich habe keine Ahnung,
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