Cabo De Gata
Versuch zu betrügen. In Wahrheit weiß ich nicht mehr, wie es geschah. Ich weiß nicht einmal mehr, ob es in der Nacht war oder am Morgen. Ich erinnere mich nur an den frappierenden Gedanken, der plötzlich in meinem Kopf war und der, in Worte gebracht, lauten könnte: Wenn ich aufhöre zu hoffen, dann nur, weil ich hoffe – nämlich dass das, worauf ich hoffe, dadurch, dass ich nicht hoffe, eintritt.
Aber vermutlich habe ich diesen Gedanken nie so gedacht. Vermutlich näherte er sich, wie jeder Gedanke, in vorsprachlicher Form. Und vermutlich – und das kommt meiner Erinnerung auch am nächsten – erschien er mit der typischen, nicht messbaren Verzögerung an der Oberfläche meines Bewusstseins als ein einziges Wort.
Und das Wort lautete: FALLE.
3
Ich erinnere mich, dass es sehr still war: das Meer.
Ich erinnere mich, dass Paco in geringer Entfernung vom Ufer in seinem grün-weißen Boot an mir vorbeituckerte – und winkte.
Ich erinnere mich, dass es an diesem Tag Kichererbsensuppe gab.
Ich erinnere mich an das Gefühl völliger Ratlosigkeit (das ich merkwürdigerweise mit den schlecht rutschenden Kichererbsen in Verbindung bringe).
Ich erinnere mich aber auch an eine Art Stolz. Als wäre es eine Auszeichnung, dass ausgerechnet ich es bin, dem dies zuteilwird.
Und dann wieder ganz andere Momente: Ich stehe vor dem Sarg meines amerikanischen Freundes, stumm, ohne zu singen. Der Seewind kühlt den Schweiß auf meiner Stirn. Ich schwitze vor Entsetzen über die Ausweglosigkeit meiner Lage. Nein, es ist kein Spaß, es ist keine Schreibübung. Es ist kein Stoff für einen Roman …
Und dann geschieht noch etwas – am Tag davor oder am Tag danach? Ich glaube mich zu erinnern, dass es am Tag davor war und dass es mir wie ein böses Omen erschien: Die Frau mit dem Gipsbein kommt – ohne Gips. Erhobenen Hauptes schreitet sie die Promenade ab. Und dann sehe ich: Sie hat sich geschminkt! Sie hat ihre Haare, weiß der Teufel was, onduliert oder dauergewellt! Der neue Mensch – so schreitet sie an mir vorbei und grüßt mich kühl über die Schulter hinweg. Ich muss hinzufügen, dass sie in letzter Zeit begonnen hatte, mit mir zu plaudern. Sie war an meiner Bank stehen geblieben, hatte mir von ihren Sorgen erzählt, ihrem Unfall vermutlich – verstanden hatte ich nichts, ehrlich gesagt, aber kam es denn darauf an?
Billard fällt aus. Stattdessen versitze ich den Nachmittag an einem der Salzseen und schaue den Flamingos zu, bis ich sicher bin, dass es sich um mechanische Spielzeuge handelt, die der Vogelwart regelmäßig aufzieht.
Ich zähle Geld, zu Hause, in meiner Bude. Ich zähle mein Geld und rechne mir aus, dass ich, wenn ich so weitermache, noch 73 Tage überlebe. Und ich zähle die Tage, die ich schon hier bin, und kriege heraus: 73! Was bedeutet das? Ich führe verschiedene Additionen und Subtraktionen durch. Bilde die Quersumme. Suche die nächste Primzahl. Rechne aus, wann die Katze kam … wann der Amerikaner, wann der Engländer … Ich fange an, Zahlen in mein Heft zu schreiben. Versuche die Zahlenfolge zu entschlüsseln. Versuche es mit den Fibonacci-Zahlen. Versuche, eine Formel zu finden, irgendeine Gesetzmäßigkeit, irgendeinen Sinn.
Dann bin ich wieder auf der Promenade. Der Sternenhimmel über mir, es ist Abend. Ich gehe, versuche nicht mehr, an Zahlen zu denken. Ich biege die erste rechts ein, Richtung Briefkasten – automatisch. Da springt sie aus einer Türnische, eine Fluchtbewegung, ganz offensichtlich. Aber noch im Sprung, so sagt mir meine Erinnerung, jedenfalls innerhalb von Sekundenbruchteilen, ehe ich begreife, hält sie in der Bewegung inne, wendet sich mir zu, mauzt mich an.
Noch heute frage ich mich, woran Katzen uns eigentlich erkennen. Am Geruch – in Sekundenbruchteilen? Am Gesicht – im Dunkeln? An der Statur – aus dem Augenwinkel, während des Sprungs? Zumal unsere Bekanntschaft ja noch nicht lange währte.
Sie folgt mir wie am ersten Abend. Ich lasse die Türen auf. Ich hole die Katzenfutterdose vom Schrank, öffne sie mit zitternden Fingern. Kratze mit dem Opinelmesser eine Portion heraus – wie viel kann eine Katze auf einmal vertragen? – und fülle sie in den gläsernen Aschenbecher.
Sie frisst.
Ihre Schwanzspitze zittert.
Das raubtierhafte Schnarren im Rachen.
Und deswegen vielleicht – wegen dieses raubtierhaften Schnarrens – nenne ich sie: kleine Löwin. Nicht, weil meine Mutter stolz darauf war, vom Sternbild her Löwin zu sein. Meine Mutter,
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