Cadence Jones ermittelt - Davidson, M: Cadence Jones ermittelt
Ich konnte es nicht erzwingen. Ich würde Shiro fragen müssen. Meine Güte, in den letzten Tagen bettelte ich ja geradezu darum, von meiner Schwester besessen zu werden.
Und Gott allein wusste, wann sie mir erlauben würde zurückzukehren.
Aber das war wirklich Pech. Denn Shiro würde wissen, was mit Tracy los war. Sie würde aus mir herauskommen und sagen
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»Sie haben Asperger.«
Das überlebende Opfer blinzelte mich überrascht an. Ihre Fingerknöchel waren zwar immer noch weiß, aber immerhin hatte sie die Bettdecke losgelassen, die sich nun locker um ihre Taille schmiegte. Die Frau trug einen sauberen blauen Krankenhauskittel. Sie roch nach frisch gewaschener Baumwolle und Heftpflaster, mit dem sie großzügig beklebt war. Es fixierte die Infusionsnadel, den Verband an dem kleinen Schnitt über dem linken Augenlid und klebte auch in der Ellenbogenbeuge, wo sie etliche Male zwecks Blutentnahme gestochen worden war. Außerdem roch sie nach Wut. Und nach Angst.
»Was?«
»Sie haben Asperger. Sie gehen nicht gern ins Fitnessstudio, weil sie dort so viele Gesichter ansehen müssen.«
»Ja, das stimmt!« Tracy Carr nickte zwar nicht, aber die Fältchen um ihre Augen drückten so etwas wie Zustimmung aus. »Die Gesichter.«
»Und Sie können den Gesichtsausdruck anderer Menschen nicht lesen.«
»Nein.«
»Sie können nicht erkennen, ob jemand wütend oder traurig ist oder einfach nur einen miesen Tag hat.« Ich studierte Tracy Carr. Während unseres – für die meisten Menschen – eigentümlichen, quälenden und unerfreulichen Gesprächs hatte sie keine Miene verzogen. Cadence würde es irgendwann auch geblickt haben. Sie war nur meistens zu sehr damit beschäftigt, es den Befragten behaglich zu machen. Was natürlich gelegentlich auch zu einem Verhör gehörte.
Ich jedoch hatte andere Prioritäten.
Nach längerem Schweigen fuhr ich fort: »Das ist wie eine Fremdsprache für Sie, nicht wahr? Eine Zeichensprache, die die meisten Menschen beherrschen, Sie aber nicht. Es ist … zum Verrücktwerden. Stimmt’s?«
Tracy nickte so heftig, dass ich schon Angst hatte, sie würde sich den Kopf an dem Tisch auf Rädern anschlagen, auf dem ihr Abendessen und der Notrufknopf standen. »Ja, das stimmt genau. Es ist so, als hätte ich ein Seminar geschwänzt, das alle anderen schon mindestens zwei Mal absolviert haben.«
»Diesen Eindruck habe ich manchmal auch«, murmelte ich vor mich hin, und zu meinem Erstaunen lächelte Tracy jetzt. Sonst bringe ich nie Leute zum Lächeln. Jedenfalls nicht absichtlich.
Was Cadence am Vorabend für einen Schock gehalten hatte, war in Wirklichkeit die typische Gemütsregung eines Asperger-Patienten. Manche glaubten ja, dass ich unter dieser Behinderung litte. Was wieder einmal nur zeigt, wie dumm die Menschen in Wahrheit sind. Außerdem diese verdammte Besessenheit, immer alles in Schubladen zu stecken: Sind Sie weiß, sind Sie Raucher, wie hoch ist Ihr mittleres Einkommen? Mögen Sie klassische Musik, sind Sie allergisch gegen Milchprodukte, wählen Sie die Demokraten?
Obwohl ich mich angesichts eines solchen Verhaltens wohl kaum aufs hohe Ross setzen konnte. Hatte ich nicht auch danach getrachtet, Tracy Carr schnellstens zu diagnostizieren, damit ich sie in meinem Kopf abheften und wieder verschwinden konnte – bis mich diese Idiotin, die meinen Körper trug, wieder brauchte?
Tracy Carr wies auf jeden Fall einige der klassischen Symptome auf. Gestern Abend war sie gestolpert und gegen Cadence gefallen, als diese sie zum Krankenwagen gebracht hatte. Sie sagte Dinge, die nicht in die jeweilige Situation passten, weil sie herauszufinden versuchte, was man in dieser und jener Lage fühlen sollte , und dies dann imitierte.
Und sie hatte eben die eine Besonderheit, die so bezeichnend für das Asperger-Syndrom ist: Ihr fehlte die naturgegebene Fähigkeit, den Gesichtsausdruck anderer Menschen zu lesen. Man musste ihr beibringen , dass dieser besondere Ausdruck ein Lächeln ist. Und ein Lächeln bedeutet, dass sich der Mensch freut … während jener Ausdruck ein Stirnrunzeln ist und das glatte Gegenteil zum Ausdruck bringt.
»Haben Sie Ihre Diagnose in der Türkei bekommen?«
Tracy lachte bitter und schüttelte den Kopf. »Nein, erst Jahre später, in den Staaten. Meine Eltern … na ja.« Sie zuckte die Achseln.
»Haben Sie obsessive Gewohnheiten oder brauchen Sie zwanghafte Rituale? Mir ist schon klar, dass das eine sehr private Frage ist, aber wir müssen nun mal alle
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