Cadence Jones ermittelt - Davidson, M: Cadence Jones ermittelt
dass nur Shiro und Michaela sie entziffern konnten. Geschwindigkeit ging eben vor Sorgfalt! Moment mal … Das war jetzt absolut unkorrekt. Na, auch egal.
Tracy war freiberufliche Buchhalterin und arbeitete von ihrem Hotelzimmer aus. Viel Familie hatte sie nicht: zwei Geschwister, zu denen kaum Kontakt bestand, weil sie offensichtlich kein Interesse daran hatte. (Eines lebte nicht weit entfernt in South Dakota, das andere hingegen im Südwesten, »vielleicht in Arizona«, wie Tracy in sehnsüchtigem Ton sagte. Angesichts unserer strengen Winter konnte ich ihr das auch nicht verdenken.) Nein, sie wollte nicht, dass ich jemanden anrufe – das hatten wohl auch die Ärzte und Krankenschwestern schon gefragt. Keine Cousins, Tanten, Großeltern, Haustiere, Angestellte und auch kein Mitgliedsausweis einer Bibliothek.
Manchmal kaufte Tracy selbst ein (ich machte mir eine Notiz im Kopf: Kollegen sollten nachprüfen, wo sie am meisten Geld ausgab. Und ein Memo an mich selbst: prüfe ihre Kreditkartenabbuchungen), aber meistens bestellte sie beim Lieferdienst.
Nein, der Täter war ihr vollkommen unbekannt. Allerdings hatte sie während ihrer wilden Flucht aus dem Hauptraum des Restaurants einiges wahrgenommen: groß sei er gewesen, sehr groß. Und er habe hängende Schultern gehabt. »Wie ein Farmer«, fügte sie hinzu. »Wenn er einen Overall getragen hätte, dann hätte er so ausgesehen wie ein Mann, der die Erde bearbeitet. Aber er trug Jeans und ein Denim-Hemd. Mit kurzen Ärmeln.«
Strähniges, schlammfarbenes Haar. Welche Augenfarbe? Tracy wusste es nicht. Mit einer so präzisen und detaillierten Beschreibung würden wir ihn vermutlich bis zum Mittag erwischt haben.
In der Vorratskammer hatte sie dann von ihrem Handy aus die 911 angewählt und dabei die Schreie der Opfer mit anhören müssen, die abgeschlachtet wurden.
»Gut, dass Ihr Handy aufgeladen war«, bemerkte ich. Memo an mich: überprüfe ihre Anrufliste. Wen sie angerufen hat, was gesagt wurde – das ganze Programm also. Und besorg dir eine Mitschrift des Anrufs an die Notrufzentrale, falls George dir die nicht ohnehin schon auf den Schreibtisch gelegt hat.
»Ja.«
Irgendetwas nagte an meinem Bewusstsein, und je mehr ich versuchte, es zu ignorieren, desto schlimmer wurde es. Es lag an Tracy. Irgendwas stimmte nicht mit ihr … woran lag es nur? War es ihre Sprache? Ihre Miene?
Nein, die Ursache meines Unbehagens lag tiefer. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie einen Anschlag knapp überlebt hatte. In ihr war etwas Trauriges, das schon lange andauerte, vielleicht schon seit ihrer Kindheit. Ich wusste nicht, was ich mit dieser Ahnung anfangen sollte, aber ich machte meine Arbeit inzwischen zu lange, um eine Ahnung als unbegründet abzutun, wie unmöglich oder unerfreulich oder dumm sie auch sein mochte.
»Nein«, erwiderte Tracy auf meine letzte Frage, die ich zum Glück nicht vergessen hatte. In ihrem Gesicht bewegte sich kein Muskel außer denen, die ihren Mund kontrollierten. »Ich gehe nie ins Fitnessstudio. Es ist mir einfach zu schwer.«
»Ja, ich hab auch Probleme, Zeit zu so was zu finden«, bemerkte ich lediglich, weil ich gerade nur mit halbem Ohr zuhörte. Zum Teil stimmte das auch – Shiro machte so viel Gymnastik, dass es für uns alle reichte. Ich war immer noch in Gedanken.
Tracy hatte mir soeben einen wichtigen Hinweis geliefert und es gar nicht gemerkt. Ich jedoch auch nicht. Was war es nur? »Außerdem«, fuhr ich fort, ohne zu wissen, welche Worte als Nächstes aus meinem Mund kommen würden, »hasse ich es, wenn mein eigener Schweiß aufs Laufband tropft. Wer will schon seinen eigenen Schweiß aufwischen? Oder gar den von anderen? Da würde ich mir ja vorkommen, als wäre ich im Laderaum eines Schiffes gefangen.«
»Und es ist schwer«, fügte Tracy hinzu.
Meine Güte, was war es nur? Und war es überhaupt wichtig? Doch, es musste schon wichtig sein, sonst würde es nicht eine solche Unruhe in mir auslösen. Es war etwas, das ich kannte. Gestern Abend zwar noch nicht, jetzt aber schon. Wenn ich doch nur …
Ich wirbelte herum und blitzte eine vorübereilende Schwester wütend an. »Würden Sie bitte ihren Infusionsbeutel austauschen, bevor das verflu– ich meine, bevor das blöde Ding falsch rum läuft?«
Verblüfft verharrte die Schwester mitten im Schritt. Tracy machte große Augen. »Wie bitte?«
»Verd– verflixt und zugenäht!«
»Wie bitte?«
»Äh … da fällt mir grad ein, dass ich noch zur Reinigung muss.«
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