Cagot
Blutgier - aufgegeben hätte, um ihn mit brutaler Gewalt abzureißen. David versuchte, die Bilder, die sich in seinem Kopf einstellten, zu verdrängen: der Terrorist, wie er am Kopf der noch lebenden alten Frau zerrte, bis sich die Halswirbel voneinander lösten und die Bänder rissen.
Aber das war noch nicht alles. Jemand, Miguel - mit Sicherheit Miguel -, hatte der alten Frau die Hände abgeschnitten. Ihre Arme waren blutige Stümpfe, von denen Adern und Sehnen hingen, und die Blutlachen an ihren Enden waren wie platte rote Handschuhe.
Die Hände selbst waren an die Tür genagelt worden. Sie waren auf mehreren anderen Fotos zu sehen.
Zwei abgehackte Hände. An der Küchentür. Festgenagelt.
Amy verbarg das Gesicht hinter ihren Fingern.
»Furchtbar. Furchtbar, furchtbar, furchtbar …«
»Ich weiß«, murmelte Sarria. »Tut mir leid. Und es gibt noch mehr.«
»Ist das denn überhaupt noch möglich?«, empörte sich David. »Kann es denn noch schlimmer werden?«
Der Brigadier holte ein letztes Foto aus dem Umschlag. Es war eine Nahaufnahme von einer der abgetrennten Hände. Er deutete mit seinem Stift auf die linke Seite des Fotos.
David kniff die Augen zusammen. In der Haut waren mehrere bogenförmig angeordnete … Eindrücke zu erkennen. Ganz schwach nur, aber nicht zu übersehen. Eine gekrümmte Linie aus kleinen Vertiefungen in der fahlen Haut.
»Ist das …« In David stieg heftiger Ekel auf. »Ist das wirklich … was ich glaube, dass es ist?«
»Oui. Ein Biss. Menschliche Bissspuren. Es sieht fast so aus, als … hätte jemand einfach mal, nur so, in einen Menschen zu beißen versucht. Um zu sehen, wie es schmeckt.«
Darauf legte sich erst einmal bedrücktes Schweigen über die Runde. Vom Strand drang der einschläfernde Rhythmus der Brandung herauf. Und dann beugte sich der andere Polizist vor. Und sagte zum ersten Mal etwas.
»Allez. Gehen Sie. Egal wohin. Bevor er Sie findet.«
29
Im Haus herrschte Stille. Der gelangweilte Polizist - ihr Aufpasser und Beschützer - lag im Gästezimmer gähnend auf dem Bett und las Goal. Suzie war im Krankenhaus. Sie hatte sich geweigert, Urlaub zu nehmen, hatte aber wenigstens zugelassen, dass man sie auf der Fahrt zur Arbeit begleitete. Das Au-pair-Mädchen war, vom Anblick der Blutlachen auf dem Fußboden bis ins Mark erschüttert, vor zwei Tagen nach Slowenien zurückgekehrt. Daraufhin war Suzies Mutter zu ihnen gezogen, um sich um Conor zu kümmern.
Und Simon informierte sich über Eugen Fischer.
Die Online-Biographie des deutschen Wissenschaftlers konstatierte kurz und bündig:
»Eugen Fischer (5. Juli 1874 - 9. Juli 1967) war ein deutscher Professor für Medizin, Anthropologie und Eugenik. Er war ein unmittelbarer Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassentheorie, die die Vernichtung der Juden legitimierte und zur Ermordung einer halben Million Sinti und Roma sowie zur Zwangssterilisation Hunderttausender anderer Opfer führte.«
Mit dem metallischen Geschmack von Abscheu im Mund saß Simon dicht vor seinem Bildschirm. Drei Punkte in Fischers ausführlicherer Lebensgeschichte erregten seine besondere Aufmerksamkeit. Der erste war Fischers ausgeprägter Bezug zu Afrika.
»1908 unternahm Eugen Fischer eine Forschungsreise nach Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, wo er die Nachkommen >arischer< Menschen studierte, die mit Eingeborenenfrauen Kinder gezeugt hatten. Er vertrat die Ansicht, dass die Nachkommen solcher >Rassenkreuzungen< - sogenannte >Mischlinge< - ausgerottet werden sollten, wenn sie zu nichts mehr nutze seien.«
Ausgerottet? Zu nichts mehr nutze? Ansicht? Ihre Nüchternheit und Sterilität machte diese Wörter umso bedrückender.
Simon atmete ein. Atmete aus. Und schloss die Augen. Sofort ging ihm das Bild von Tomaskys geiferndem Hass durch den Kopf, und er riss die Augen wieder auf. Im Zimmer nebenan war Conor zu hören, der gerade - wrumm, wrumm - sein Lieblingsspielzeugauto in die Garage manövrierte.
Als Simon dann dem Geplapper seines Sohns lauschte - Conor redete mit sich selbst -, spürte er den heftigen Sog väterlicher Liebe: in Form eines schmerzhaften Beschützerinstinkts. Conor durfte kein Leid geschehen. Er musste alles Böse auf dieser Welt von ihm fernhalten.
Am ehesten würde ihm das jedoch gelingen, wenn er sich auf das Wesentliche konzentrierte. Also machte er sich wieder an die Arbeit.
»Hitler war ein ausgewiesener Bewunderer Eugen Fischers, insbesondere von dessen Hauptwerk, Menschliche
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