Cagot
Marionettenregimes von Vichy. Außerdem sei Le Corbusier ein glühender Bewunderer Hitlers gewesen. Der Aufsatz zitierte eine »berüchtigte« Bemerkung des Architekten, in der dieser den Führer als »großartig« bezeichnete.
Um eine ausgleichende Argumentation bemüht, räumte der Blog ein, Le Corbusier sei mit dieser Haltung nicht allein gewesen; viele Architekten hätten mit den Faschisten oder Marxisten sympathisiert - weil Architekten eben Utopisten seien. Architekten wollten die Gesellschaft verändern. Das machte sie nicht unbedingt zu Nazis oder Kommunisten oder Mördern …
Gegen Ende setzte der Blog eine weitere Spitze mit der Behauptung, ein berühmter Bau Le Corbusiers in Marseille, die Unite d’Habitation, sei der Ort mit der höchsten Selbstmordrate Südfrankreichs. Und doch, hieß es in dem Blog, sei das Kloster La Tourette noch bedrückender - und die Selbstmordrate sei dort nur deshalb geringer, weil alle Besucher schon nach wenigen Tagen die Flucht ergriffen. Die Mönche allerdings mussten bleiben und litten fürchterlich, wobei jedoch ihre religiösen Überzeugungen sie von einem Selbstmord abhielten.
Und schließlich stellte der Verfasser des Blogs die naheliegende Frage: Warum? Aus welchem geheimnisvollen Grund hatten die Dominikaner einen Mann wie Le Corbusier damit beauftragt, so einen rätselhaften Bau zu planen und zu bauen?
Simon fuhr den Computer herunter, um der Stille in seinem Arbeitszimmer zu lauschen - und dem Dur-Akkord der Logik in seinem Kopf.
Der Blog mochte mit einer Frage geendet haben. Aber für Simon lag die Antwort auf der Hand. Form folgt Funktion: Das war Le Corbusiers lebenslanges Credo gewesen. Vielleicht war die wahre Funktion dieses Baus gewesen, Fakten aufzubewahren, vielleicht sogar entsetzliche Fakten. Und der Bau war auf subtile Weise genuiner Ausdruck dieser sinistren Funktion: Halte dich fern, denn hier befindet sich das Böse - wie die grelle, abschreckende Färbung eines giftigen Insekts.
Er erinnerte sich noch im Wortlaut daran, was Professor Winyard über diese wichtigen Dokumente gesagt hatte: über die Aufzeichnungen zu den Blutuntersuchungen an den Cagots und die baskischen Hexenverbrennungen, über die vom Vatikan geheim gehaltenen und versteckten Dokumente.
»Sie wurden im Angelicum aufbewahrt, der von den Dominikanern geleiteten päpstlichen Universität in Rom. Jahrhundertelang glaubte man sie dort sicher. Doch dann, nach dem Krieg, nach dem Ende der Naziherrschaft, gelangte man zu der Überzeugung, dieser Ort sei nicht mehr sicher genug für derart… brisante Daten. Gerüchten zufolge wurden die Dokumente in aller Heimlichkeit an einen noch sichereren Ort gebracht. Aber wo sich dieser Ort befindet, das weiß niemand!«
Niemand weiß, wo sich diese Dokumente befinden? Wirklich nicht? Doch nicht etwa in einem mysteriösen, nach dem Krieg erbauten Dominikanerkloster, das mit Vichy und den Nazis in Verbindung gebracht werden kann?
Inzwischen war das Geheimnis eine Nachtblume, die sich im Mondschein langsam öffnete und den mitternächtlichen Garten mit ihrem Duft erfüllte.
Aber er brauchte noch eine Bestätigung. Er musste David Martinez erreichen und sich von ihm die Lage des Sternchens auf der Karte bestätigen lassen. Jetzt sofort.
Aber erst einmal sollte er sich wieder beruhigen. Er stand auf, ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kamillentee, weil er einmal gehört hatte, dass Kamillentee eine beruhigende Wirkung hatte.
Scheiß auf den blöden Kamillentee. Er kippte den Tee in den Abguss, rannte ins Arbeitszimmer zurück und wählte Martinez’ Nummer. Er bekam keine Verbindung. Drei Sekunden später versuchte er es noch einmal, als ob das etwas ändern würde. Wieder nichts. Wie ihm jetzt wieder einfiel, hatte David sein Handy weggeworfen. Sehr vernünftig.
Und was jetzt? Sicher würde David Martinez früher oder später selbst aus Biarritz anrufen. Und wenn er dazu nicht in der Lage war?
Simon begann, hektisch in seinem Arbeitszimmer auf und ab zu gehen. Er machte sich Sorgen um David und Amy. Und er versuchte, nicht an Tomaskys Angriff zu denken.
Von einer Wand zur anderen zu gehen, dauerte dreieinhalb Sekunden. Ihr Haus war so ärgerlich klein. Viel zu klein. Wenn es ihm gelang, diesen spektakulären Fall zu lösen, konnte er vielleicht dieses sensationelle Buch schreiben und ein größeres Haus kaufen und…
Schluss. Simon setzte sich an den Computer und schickte David Martinez eine Mail. Dann verließ er das
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