Cagot
baskischen Extremisten erzogen worden sein, voller Stolz auf seine baskische Herkunft. Und dann - eines Tages - erfährt er von seinem Vater, dass er gar kein Baske ist, sondern ein Cagot, ein von allen verachteter Cagot. Das muss für Miguel Garovillo ein fürchterlicher Schock gewesen sein, der ihn sicher bis in seine Grundfesten erschüttert hat. Und dann hat er einen Entschluss gefasst.« Sarrias Stirn legte sich in tiefe Falten. »Den Entschluss, mit allen Mitteln zu verhindern, dass dieses Geheimnis aufgedeckt wird, und jeden zu töten, der die demütigende Wahrheit über seinen Vater - und über ihn selbst - zu enthüllen droht. Wie es der Zufall wollte, deckten sich seine Absichten mit denen der Piusbruderschaft. Vielleicht hat ihn die Piusbruderschaft daraufhin rekrutiert, vielleicht waren die beiden Garovillos aber auch vorher schon Mitglieder. Es kam also beiden Seiten sehr zupass.«
»Und seine ETA-Zugehörigkeit war dabei natürlich auch von Vorteil«, spann David den Faden weiter. »Er verfügte über Waffen und Bomben und das nötige Know-how für die Mordanschläge.«
»Vraiment. Und eines Tages kam Miguel zu Ohren, dass Ihre Eltern in Frankreich, in der Nähe von Gurs, Ferien machten und dort Nachforschungen über die Cagots anstellten. In der Brasserie d’Hagetmau Fragen zu diesem Thema stellten. Miguel muss sofort hellhörig geworden sein und Gefahr gewittert haben. Und so schritt der Wolf zur Tat. Ahrs.«
Der auflandige Wind trug das zerbrechliche Lachen eines Kindes zu ihnen. Über Sarrias Gesicht huschte ein Anflug aufrichtigen Bedauerns.
»Aber für Ihre Familie kommt das alles natürlich zu spät, Monsieur Martinez. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr tun konnte. Versucht habe ich es. Bitte verzeihen Sie mir.«
David nickte, meinte es aber nicht wirklich. Er wollte nicht vergeben, er wollte kein Bedauern - er wollte Antworten. So viele Antworten wie möglich. Er spürte, wie seine Entschlossenheit zurückkehrte, er wollte Rache für seine Mutter und seinen Vater. Und für seine ungeborene Schwester. Aber um Rache üben zu können, musste er erst das ganze Bild sehen. Bevor Miguel die letzten Beweise zerstören konnte.
Deshalb fragte er: »Aber was hat das alles mit Gurs zu tun, Brigadier Sarria? Was ist dort passiert?«
Sarria signalisierte mit einem Achselzucken, dass er diesbezüglich passen musste. »Das kann ich Ihnen nicht sagen - aus dem einfachen Grund, dass ich es nicht weiß. Niemand scheint das zu wissen. Nur so viel…«
Er beugte sich über den Tisch, und seine Stimme wurde leise und nahm einen besorgten Ton an. »Ich kann Sie lediglich bis zu einem gewissen Punkt schützen. Sie befinden sich in Gefahr. In großer Gefahr. Die Bruderschaft und ihre mächtigen Sympathisanten in der Politik wollen Sie nach wie vor zum Schweigen bringen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Amy. Sie hatte die Arme über der Brust verschränkt. »Wo sind wir überhaupt noch sicher? In England ist es zu gefährlich. In Spanien genauso. Wo?«
»Es ist überall das Gleiche. Sie haben keine Ahnung, in welcher Gefahr Sie sich befinden …« Sarria sah David und Amy bedeutungsvoll an. »Vielleicht hilft Ihnen das. Falls Sie noch überzeugt werden müssen.«
Er griff in seine Aktentasche und holte einen großen braunen Umschlag heraus. Er öffnete ihn und legte einen Packen Fotos auf den Tisch.
»Das sind die Fotos von dem Mord in Gurs. Eloises Großmutter, Madame Bentayou. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie Ihnen zeigen sollte. Aber … aber vielleicht sollten Sie sie sich lieber doch ansehen.«
David griff nach einigen der Hochglanzfotos. Zögernd. Gleich bekäme er zu sehen, was Eloise durch das Fenster des Bungalows gesehen hatte. Was sie nicht hatte beschreiben können und wollen: den unbeschreiblichen Mord an ihrer Großmutter.
Er wappnete sich innerlich, bevor er sich das größte Foto ansah.
»O Gott.«
Auf dem Foto war der Tatort zu sehen.
Madame Bentayous Leiche lag auf dem blutüberströmten Küchenboden. Sie war zwar anhand der Kleider - und der Pantoffeln mit dem Schottenmuster - zu identifizieren, aber ein Gesicht, um die Identifizierung zu bestätigen, war nicht mehr da. Weil ihr der Kopf abgeschnitten worden war.
Er schien nicht nur abgeschnitten, sondern abgerissen worden zu sein. Die grausige Wunde, die zerfetzte Haut, die gedehnten Bänder und Sehnen, das alles deutete darauf hin. Als ob jemand ihren Hals zur Hälfte durchgesägt und dann genervt - oder aus schierer
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