Cagot
lächelte Simon zurück.
David flüsterte ins Telefon. »Wir fliegen jetzt.«
»Zu Eloise, nicht wahr?«
»Ja.«
»Okay. Also …« Simon seufzte. »Seien Sie bitte vorsichtig. Das Ganze ist total aberwitzig. Hinter Ihnen ist ein komplett Irrer her.«
Ein Moment des Schweigens. Dann sagte David: »Das Gleiche gilt für Sie, Simon. Auch wenn wir uns nicht persönlich kennen, aber … Sie wissen schon … alles Gute, ja?«
»Danke.«
Simon drückte die Trenntaste. Dann begann er seine Erkundungstour durch das Kloster. Le Couvent de Sainte-Marie de La Tourette.
Sein zweistündiger Rundgang bestätigte, dass der Rest von La Tourette genauso düster und abweisend war wie die Zellen. Eigenartige Türen führten in missgestaltete Räume. Vereinzelte Oberlichte zeigten aus eigenartigen Blickwinkeln den grauen Wolkenhimmel. Betonträger stießen ins Leere; sie schienen keinem anderen Zweck zu dienen, als dass man sich in einem unbedachten Moment den Kopf daran stieß.
Es war ohne Zweifel interessant, aber auch enttäuschend. Es gab nicht den geringsten Hauch eines Geheimnisses, keinen Hinweis auf irgendein verstecktes Archiv. Und die Bibliothek war einfach eine Bibliothek - im dritten Stock des Klosters. Sie hatte ganz und gar nichts Geheimes, und ihr Inhalt war durch und durch gewöhnlich. Da gab es keine an die Regale geketteten alten Texte. Keine päpstlichen Pergamente in Mahagonitruhen. Keine modrigen, ziegenledergebundenen Handschriften. Nichts als Stellagen mit normalen Büchern und große Metalltische. Sogar einen Getränkeautomaten gab es.
Es sah aus wie in einer Stadtbibliothek.
Mit einem tiefen Seufzer setzte sich Simon an einen der Tische, um in verschiedenen Büchern zu blättern - aber seine unmotivierte Suche wurde von einem weiteren Anruf unterbrochen.
Was wollten sie auf einmal alle von ihm?
Er ging in einen tristen Betongang hinaus.
Es war Bill Fanthorpe, der Psychiater aus St. Hilary.
»Hallo, Bill, ich …«
»Tag, Simon. Tut mir leid, wenn ich störe, aber …« Die Stimme des Arztes war gepresst vor Anspannung. »Was ist, Bill?«
»Ihr Bruder ist verschwunden.«
Ein leises Rumpeln hallte durch den Bau. Das Geräusch des TGV Lyon-Paris, der in der Ferne durch den Wald rauschte. »Tim? Verschwunden?«
»Ja. Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen, nicht allzu große jedenfalls.«
»Wie ist denn das möglich? Bill…«
»Das kommt ständig vor.« Fanthorpes besorgter Ton war rasch verflogen, abgelöst von ostentativer Ruhe. »Schizophrene können extrem unstet sein. Und Tim ist früher schon mal abgehauen, vor zwei Jahren.«
»Wann? Wann ist er verschwunden? Und wie?«
Der Psychiater zögerte.
»Wir glauben, gestern Nacht. Wie gesagt …« Eine zögernde Pause. »Ich habe gehört, dass Sie sich Sorgen um die Sicherheit Ihrer Familienangehörigen machen. Hat mir Ihre Frau erzählt. Deshalb … wir stehen mit der Polizei in Verbindung, aber sie haben uns versichert … also, es steht völlig außer Frage, dass …« Eine weitere leicht verlegene Pause. »Eine Fremdbeteiligung kann man ausschließen. Aber von unserer Seite handelt es sich zweifellos um eine unverzeihliche Nachlässigkeit. Ich muss mich nachdrücklichst entschuldigen.«
»Herrgott noch mal.«
»Bitte. Regen Sie sich nicht unnötig auf. Wir werden ihn finden. Spätestens heute Abend. So, wie wir ihn auch letztes Mal gefunden haben.«
Simon starrte auf einen feuchten grauen Fleck an der Betonwand vor ihm. Es war alles seine Schuld. Er war weggefahren. Er hatte seine Familie ohne einen vernünftigen Grund schutzlos zurückgelassen. Warum war er überhaupt hier?
Ohne die Polizei über sein Vorhaben in Kenntnis zu setzen, hatte er am frühen Morgen das Haus verlassen und ein Taxi, den Zug nach Heathrow und dann die erste Maschine nach Lyon genommen - und alles nur in der hirnrissigen Illusion, dass er ein Topreporter war, der eine Sensationsstory vom Kaliber der Watergate-Affäre aufdecken würde.
Was war er doch für ein Idiot gewesen. In Wirklichkeit war er nur ein zweitklassiger Polizeireporter, der, bereits weit in den Vierzigern, zu viele Jahre an den Alkohol vergeudet hatte und verzweifelt mit seinesgleichen mitzuhalten versuchte, indem er irgendwelchen Hirngespinsten hinterherjagte. Es würde nichts dabei herauskommen. Und jetzt war sein Bruder … abgehauen, auf der Flucht, ganz auf sich allein gestellt. Was machte er wohl gerade? Wie schlug er sich durch?
Er musste an Tomasky denken; er versuchte, nicht an
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